Nachruf auf eine Rose
sein Vater ihm je Zuneigung entgegengebracht hätte, bei weitem nicht. Bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihm geboten hätte, habe er den Sohn mit Freuden aufs Internat abgeschoben, und sie hätten niemals eine enge Beziehung aufgebaut. Graham habe seinen Vater, als er noch lebte, bewusst ignoriert, und Jennys Ansicht nach plagten ihn jetzt, nachdem es zu spät war, heftige Schuldgefühle.
Das alles klang für Nightingale durchaus plausibel. Sie machte sich Notizen und schnappte den einen oder anderen Namen eines Familienmitglieds auf. Wie Jenny so erzählte, wurde Nightingale neugierig auf die Beziehung zwischen Jenny und Alan Wainwrights Sohn.
«Wie lange kennen Sie Graham schon?»
«Seit Januar, also seit drei Monaten. Das ist für ihn schon ein Rekord!»
«Er ist wohl sehr begehrt, hm?»
«O ja, er zählt zu den begehrtesten Junggesellen hier im Land. Das klingt schrecklich! Sie dürfen keinen falschen Eindruck von ihm bekommen. Wenn man einmal von der Tatsache absieht, dass er sich wie ein verzogener Schuljunge benimmt, ist er einfach reizend. Ein sehr liebevoller Mann.» Zum ersten Mal kam sie ins Stocken, und Nightingale spürte, dass sie etwas zurückhielt.
«Und doch beunruhigt Sie etwas. Was ist los?»
Jenny setzte sich auf die Kante des ungemachten Bettes und fuhr sich mit den Fingern durch das lange blonde Haar.
«Er ist wie besessen von Alex’ Frau, Sally. Er hat einen Privatdetektiv beauftragt, der ihr überallhin folgen soll. Fast jeden Tag trifft er sich mit dem Mann. Doch nie rückt er mit der Sprache heraus, was er ihm erzählt hat.»
«Sie sagten doch vorhin, er könne nichts für sich behalten, er sei absolut offen zu Ihnen.»
«Das ist er sonst auch. Das ist das Einzige, worüber er nie ein Wort verliert. Ich habe den Eindruck, er denkt die ganze Zeit an sie. Er scheint irgendwie überzeugt davon zu sein, dass sie etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun haben könnte.»
«Bitte verzeihen Sie die Frage, aber ist Sally hübsch?»
Jenny wurde rot und warf Nightingale einen wütenden Blick zu, entgegnete aber ruhig:
«Ja, sie ist ein richtiges englisches Heideröschen – zarte Pfirsichhaut, aschblond – natürlich echt –, sehr hübsch und klasse Beine. Dennoch glaube ich nicht, dass er sich deshalb für sie interessiert. Ich glaube vielmehr, dass er sie regelrecht hasst. Ihre Vergangenheit liegt wohl ziemlich im Dunkeln, und die paar Mal, die ich ihr bisher begegnet bin, hat sie die Männer um ihren hübschen kleinen Finger gewickelt, aber das ist sicher noch lange kein Grund, sie des Mordes zu verdächtigen!»
«Tut er das denn?»
«Er hat es nie offen gesagt, aber er kommt einfach nicht darüber hinweg, dass sein Vater zu einem so günstigen Zeitpunkt gestorben ist, praktisch kurz, nachdem er sein Testament geändert hatte, und nur ein paar Monate, nachdem er Sally kennen gelernt hatte.»
«Ich verstehe. Das sind aber alles nur Vermutungen?»
«Ja, natürlich. Aber Sie verstehen Graham nicht. Er hat keine Arbeit, er legt sich ein Hobby nach dem anderen zu, ist verzweifelt auf der Suche nach etwas, das seinem Leben Inhalt verleiht, und er leidet unter furchtbaren Schuldgefühlen wegen seines Vaters. Er ist gar kein Playboy, er ist einfach nur ein sensibler, liebevoller Mann, dessen Tage unausgefüllt sind.»
«Sie mögen ihn wirklich, nicht wahr?»
«Ja, sehr.»
Nightingale verabschiedete sich und begab sich zu Fenwick und Cooper, die Grahams Kettenraucherei erdulden mussten. Er war unrasiert und nachlässig gekleidet, und doch strahlte er einen gewissen Charme aus, der mit seinem Geld nichts zu tun hatte. Nachdem er gegangen war, blickte Fenwick sie mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
«Irgendetwas von Bedeutung?»
«Eigentlich nicht, Sir. Jenny glaubt, er fühle sich schuldig, und sie scheint ihn recht gut zu kennen. Sie macht sich Sorgen um ihn. Er ist besessen vom Tod seines Vaters, und irgendwie scheint er dafür die Frau seines Cousins, Sally, verantwortlich zu machen. Er hat sogar einen Privatdetektiv engagiert.»
«Ich weiß, er hat es uns erzählt. Doch das Einzige, was er bisher herausgefunden hat, ist, dass Sally Wainwright-Smith vor Jahren ihren Mädchennamen geändert haben muss und dass es Gerüchte gibt, sie habe Alan Wainwright in irgendeiner Weise dazu gebracht, seinen Besitz aufzuteilen, so dass sie und ihr frisch angetrauter Ehemann in den Genuss der Erbschaft kommen würden.»
«Fünfzehn Millionen Pfund sind ein starkes Motiv.» Cooper
Weitere Kostenlose Bücher