Nachsuche
freute sich zwar. Seine Schwester Fitzi und die meisten seiner Schulkollegen besaßen längst eines. Andererseits war ihm nicht wohl bei der Vorstellung, seine Eltern könnten so stets wissen, wo er sei und was er treibe.
»Kein Baby-Fon«, hat seine Mutter lächelnd gesagt, als sie sein zweifelndes Gesicht sah. »Du musst es nicht immer eingeschaltet haben. Wir wollen dich nicht kontrollieren. Aber du kannst dich melden, wenn du uns brauchst.«
Jetzt, wo sie das Neugrüt vor sich sehen, erleichtert ihn diese Möglichkeit zum ersten Mal.
Die paar Häuser des Weilers scheinen verlassen. Alle Fensterläden sind geschlossen, die Gärten abgeräumt. Oben am Waldrand hängt an den Buchen nur mehr das eine oder andere braune Blatt. Die Tannen wirken fast schwarz, während die Wiesen noch in leuchtendem Grün dastehen. Der Lehm auf den schmalen Kuh-Wegen waagrecht zum Hang ist gelb und feucht und bildet einen starken Kontrast. Schaut aus wie ein abstraktes Bild, denkt Pauli. Sein Schritt verlangsamt sich.
»Weißt du was, Bayj«, sagt er schließlich, »wir sehen uns nach seinem Auto um. Er wird es kaum direkt vor der Tür abgestellt haben.«
Doch als sie sich dem verfallenen Haus nähern, hören sie unterdrückte Laute. Es klingt fast wie von einem Tier.
Pauli bleibt stocksteif stehen.
»Hast du es auch gehört, Bayj?« fragt er atemlos.
Der Hund wedelt schwach mit dem Schwanz.
Eine Katze ist es nicht, denkt Pauli, sonst würde Bayj sich anders verhalten. Er legt ihm die Hand auf den Kopf. Unter dem verstaubten Fenster stellt Pauli sich auf die Zehenspitzen, doch er ist zu klein.
Sie gehen um das Haus herum, bewegen sich so lautlos wie möglich.
Die halbverglaste Tür zur Werkstatt geht direkt auf den Hof. Sie ist nur angelehnt. Pauli späht durch die schmutzigen Scheiben. Er sieht einen gekrümmten Rücken, hochgezogene Schultern, zwischen denen der Kopf fast verschwindet. Auf dem Boden kann er zwei ausgestreckte Beine erkennen. Der Junge rührt sich nicht. Bayj neben ihm zieht heftig an der Leine.
Pauli weiß nicht, was das Bild bedeutet, das sich ihm da bietet. Er hat Angst, aber die Neugier überwiegt. Er streicht dem Hund beruhigend über den Rücken und bindet ihn an. Dann schiebt er vorsichtig die Tür so weit auf, dass er durchschlüpfen kann. Sie knarrt, doch die Gestalt, die da hockt, scheint nichts zu hören. Sie wiegt sich vor und zurück und gibt von Zeit zu Zeit ein Winseln von sich.
Pauli geht auf Zehenspitzen so weit in den Raum, bis er sehen kann, wer dort auf dem Boden liegt.
Er ist nach Neugrüt marschiert, weil er geglaubt hat, Pfähler hier zu finden. Aber nicht so. Er begreift nicht recht, was er sieht. Da liegt ein Mann auf dem Boden und rührt sich nicht, und alles an ihm und um ihn ist voll Blut.
Der Junge geht rückwärts, rammt die halb offene Türe, die weit aufschwingt und gegen die Wand schlägt. In Panik reißt er die Leine an sich, dann rennen sie los. Sie hören aus der Werkstatt einen Schrei, halb Weinen, halb Knurren und dann haltloses Schluchzen, als hätte das Geräusch der Tür einen gnädigen Bann gebrochen. Der Junge und der Hund hetzen über den Hof, auf die Wiese, den Abhang hoch, bis sie den Waldrand erreichen. Dort fällt Pauli völlig ausgepumpt ins nasse Laub. Bayj lässt sich dicht neben ihm nieder, als müsse er ihn beschützen.
Nachdem der Junge wieder zu Atem gekommen ist, setzt er sich auf und fängt an zu überlegen.
»Ich denke, es ist Kevin«, sagt er zu seinem Freund. Und dann: »Glaubst du, dass er tot ist?«
Bayj winselt.
»Genau, das denke ich auch«, sagt der Junge. Dann angelt er in seinem Hosensack nach dem Handy.
Auch Noldi will nach Neugrüt. Doch nach dem Flop bei Kevins Verhör ist er vorsichtig geworden. Er kann, denkt er, sich nicht noch einen Alleingang leisten. Daher beantragt er ganz offiziell ein Polizeifahrzeug mit zwei Mann für einen Fahndungseinsatz. Und der Amtsweg dauert. Als er endlich so weit ist, vor dem Polizeiposten in Turbenthal ins Auto zu steigen, läutet sein Handy.
»Du musst kommen«, sagt Pauli knapp. »Ins Neugrüt. Kevin«, sagt er und schluckt. Er liegt auf dem Boden und rührt sich nicht. Rundherum ist alles voll Blut.«
»Neugrüt«, sagt Noldi nur, »bin schon auf dem Weg.«
Er wirft sich ins Auto, sagt zum Fahrer, »Schnell, aber nicht dass wieder was passiert.« Unterwegs alarmiert er noch den Staatsanwalt, den Doktor und die Spurensicherung.
»Scheint, wir haben einen Toten«, sagt er.
Dann erst kommt
Weitere Kostenlose Bücher