Nachsuche
sogar gemeinsam in die Ferien. Einmal fuhren sie ins Wallis auf ein Skiwochenende. Freitagnachmittag saßen sie auf der Terrasse des Hotels in der Sonne und tranken Absinth, der damals noch verboten war. Noldi fotografierte die Gläser mit der goldgelben Flüssigkeit auf dem knallroten Blechtisch vor einem Himmel, der genauso blau war wie sie. Am nächsten Tag fühlten sie sich sterbenselend. An eine Skitour war nicht zu denken. Sie wollten nur mehr eines, sich beim Blauen Kreuz, der Abstinenten-Vereinigung, einschreiben. Erst am Abend hatten sie sich so weit erholt, dass sie zur Katerbekämpfung ein Bier trinken konnten.
Damals waren sie beide noch ledig. Dann lernte Noldi Meret kennen und wurde bald darauf ins Tösstal versetzt. Franz kam nach Affoltern am Albis. Anfangs trafen sie sich regelmäßig. Sie heirateten ungefähr um die gleiche Zeit. Noldi war Brautführer bei Franz und Franz bei ihm. Sie telefonierten noch, schrieben Ansichtskarten aus den Ferien. Aber für ein gemeinsames Bier im Hauptbahnhof Zürich reichte es immer seltener. Schließlich verloren sie einander aus den Augen, bis Franz zum Polizeikommando Winterthur versetzt wurde. Da war er noch mit seiner Frau zusammen, doch in der Zwischenzeit hatte er sich scheiden lassen. Seine beiden Kinder lebten bei der Mutter.
Franz ist ein feiner Kerl, anständig und hilfsbereit, wann immer irgendeiner etwas braucht. Seine ganze Liebe gehört jetzt seinem Hund, einem viel zu dicken Dalmatiner.
Dann gibt es da noch den Markus Eidenbenz mit seinem runden Kindergesicht. Er ist der Jüngste von ihnen, obwohl er auch schon auf die Dreißig zugeht. Und den Oskar Kohler, grau, eckig, mürrisch. Ein Mann, der nichts redet, es sei denn, um sich über einen anderen lustig zu machen. Ihn kann Noldi am wenigsten leiden. Einer fehlt, der Ruedi Rathgeb, den haben sie zur Weiterbildung geschickt.
Chef der Abteilung ist Hans Beer, drahtig, zackig mit großer Hakennase. Eine Kriegsgurgel, wie ihn Noldi bei sich nennt. Trotzdem, er mag ihn gern. Der Mann ist hart, aber gerecht, ein Junggeselle, der immer noch bei der Mutter lebt. Fährt ein schweres Motorrad, treibt Sport wie verrückt und macht an jedem Orientierungslauf mit, egal, in welchem Land er stattfindet, einmal sogar in Venedig. Dafür bewundert Noldi ihn restlos.
Er war auch schon dort, doch sich in dieser Stadt zurechtzufinden, ist ihm nicht gelungen, weder mit noch ohne Stadtplan. Zum Glück war Meret bei ihm. Für sie war die Sache einfach. Sie ging immer nur der Nase nach.
»Schau«, sagte sie zu ihm, »in dieser Stadt kannst du dich nicht wirklich verlaufen. Früher oder später landest du irgendwo, entweder am Canale Grande oder auf dem Markusplatz. Dann weißt du wieder, wo du bist.«
Meret, denkt Noldi zärtlich. Wenn er sie nicht hätte.
Er holt das Foto von sich und seiner Frau mit dem Enkel hervor. Er gefällt sich gut darauf, findet, er schaut um zehn Jahre jünger aus, aufrecht, verhältnismäßig schlank, und dass er eine Glatze kriegt, sieht man von vorne auch nicht. Er hält seine Hand auf Merets Hüfte und beide schauen lächelnd den Säugling an, den sie auf dem Arm hält. Sie wirkt so jung, mädchenhaft fast, dass niemand das Kind für ihren Enkel halten würde.
»Da, das ist unser Jüngster«, prahlt Noldi, lässt das Foto herumgehen und erntet großes Hallo. Alle lachen, er muss Hände schütteln, und sie feiern lautstark den flotten Großvater.
Franz sagt: »Auf das gehen wir noch eins trinken.«
Da kommt der Chef und die Sitzung beginnt. Wie Noldi erwartet, liegt der Fall mit der Toten im Neubrunnertal auf Eis. Niemand hat ein besonderes Interesse daran. Niemand scheint sie zu vermissen. Man weiß nicht, wer sie ist, woher sie kommt, geschweige denn, woran sie gestorben ist. Einigkeit herrscht nur darüber, dass sie kaum allein dort in den Wald gelangt sein kann. Noldi berichtet, was er bisher unternommen hat. Alle sind damit einverstanden. Klar, denkt er, damit bleibt die Sache an ihm hängen. Wie Meret gesagt hat. Man kommt überein, abzuwarten, bis der Obduktionsbefund sowie der Bericht der Spurensicherung vorliegen. Dann werde man über das weitere Vorgehen entscheiden. Die obligate Meldung in den Mitteilungen der Kantonspolizei im Internet lautet: Neubrunnertal: Weibliche Leiche gefunden – Zeugen gesucht. Auf eine Veröffentlichung in den Medien wird vorerst verzichtet, heißt es im Polizeicommuniqué.
Auf der Fahrt zurück ins Tösstal denkt Noldi über die Forststraße
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