Nacht
wollte sie ein Gespräch anfangen. Sie ist weder hübsch noch hässlich. Es liegt etwas Wildes, beinahe Drohendes in ihrem Blick. Um Missverständnisse zu vermeiden, setze ich die Kopfhörer meines MP 3 -Players auf und höre Musik.
Die Leuchtanzeige über der Fahrerkabine zeigt fünf Uhr fünfundvierzig. Es ist eine halbe Stunde vergangen, seit ich eingestiegen bin. In der nächsten halben Stunde müsste Halle meiner Geschichte zufolge das Haus verlassen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich spüre, wie die Anspannung langsam und unerbittlich anschwillt, parallel zu der Bläserpassage des Stücks, das ich gerade höre. Per Knopfdruck springe ich von Song zu Song. Suche etwas Harmonisches.
Kurz darauf erscheint auf der Leuchtanzeige der Name der nächsten Haltestelle: Nordpark.
Ich bin da.
Schnaubend und quietschend öffnen sich die Bustüren. Draußen erwartet mich ein noch dichterer Nebel, zwischen den Bäumen erscheint er geradezu undurchdringlich. Es fällt schwer, sich zu orientieren. Ich komme sonst nie in diese Gegend, obwohl das Krankenhaus, in dem Jenna arbeitet, kaum zehn Häuserblocks entfernt liegt, bis zur Schule sind es höchstens fünfzehn. Halles Wolkenkratzer müsste sich an der Südseite befinden, wo ich gerade bin, aber bei dieser Nebelsuppe kann ich noch nicht mal das erkennen.
Nach etwa fünfzig Metern steht er plötzlich vor mir. Die Glasfront, der Park gegenüber … alles wie in der Geschichte. Ich richte den Blick auf den Eingang, aus dem Halle gleich auftauchen müsste, und warte. Wie üblich habe ich keine Uhr dabei, und wie üblich bereue ich es. Ich hoffe nur, dass das alles bald vorbei ist.
Die feuchte Kälte kriecht mir bis in die Knochen. Die Angst, mich in eine schreckliche Lage gebracht zu haben, macht alles nur noch schlimmer.
Meinem Herzschlag lauschend, versuche ich, die Sekunden zu zählen. Es passiert nichts. Ich fange gerade an, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass das alles nur eine Ausgeburt meiner Phantasie war, ein tragisches Spiel des Zufalls, das ich bald vergessen haben werde.
Da höre ich plötzlich ein Geräusch. Eine Silhouette taucht im Nebel auf: Es ist eine Frau in Laufshorts und Fleecejacke.
Halle.
Mein Herz bleibt stehen.
Die Welt bleibt stehen.
Ich bewege mich wie eine willenlose Maschine, verstecke mich hinter der Hausecke und beobachte die Frau, die zu laufen beginnt. Sie läuft auf den Park zu. Ich beschließe, ihr zu folgen, obwohl sich meine Beine butterweich anfühlen und unter meinem Gewicht fast nachgeben.
Ich fange ebenfalls an zu rennen. Mein Atem wird schneller und angestrengter. Trotz der Kälte öffne ich meine Jacke. Ich habe einen Kloß im Hals, den ich nicht herunterschlucken kann. Ich atme Nebel ein. Ein Schild rechts weist zum See. Irgendwo in der weißen, wattigen Schicht höre ich die entfernten Schritte der Frau. Ich setze alles daran, ihr auf den Fersen zu bleiben, werde aber immer langsamer. Die Angst lähmt mich. Mit letzter Kraft versuche ich, durchzuhalten, doch mein Kopf schmerzt, und mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Unwillkürlich lege ich die Hände an die Schläfen, die pochen wie von einem Presslufthammer durchbohrt.
Ich darf nicht stehen bleiben. Ich drehe um, folge den Signalen meiner schmerzenden Schläfen und meinem Instinkt, der mir sagt, von hier wegzulaufen. Aber dann widerstehe ich doch. Ich muss … muss sie warnen!
Ich mache noch einen Schritt nach vorn. Einen zweiten.
Und dann, ganz plötzlich, höre ich durch den Nebel einen gurgelnden Schrei.
»Nein!«, rufe ich.
Aber das Entsetzen ist zu groß, und meine ganze Energie treibt mich dazu fortzulaufen, weg von hier, so schnell wie möglich. Je weiter ich mich vom Park und diesem Schrei entferne, desto erträglicher werden die Kopfschmerzen und die Angst, desto leichter wird mein Schritt. Jetzt kann ich schon fast wieder denken, während ich laufe. Während ich fliehe.
Ich erreiche die Straße und steige in den erstbesten Bus, der vorbeikommt. Keine Ahnung, wohin er fährt.
Hauptsache, weg von hier.
Die Abendausgabe ist wie eine Verurteilung für mich. Man hat Halle heute Morgen im Nordpark gefunden. Ihre Leiche hing am Ast eines Baums, um den Hals ein festes Seil. Die Polizei, in der Person des leitenden Ermittlers, Kommissar Sarl, glaubt an einen Ritualmord.
Wieder ein Strick, wieder ein aufgehängter Körper. Man beginnt, von ein und derselben Hand hinter den scheinbar so verschiedenen Taten zu sprechen. Inoffizielle Stimmen bei der
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