Nacht aus Rauch und Nebel
verkünden lassen, dass du die Eröffnungsrede für das neue Aquarium halten wirst.«
Als ich in der darauffolgenden Nacht in meinem Zimmer in Notre-Dame die Augen aufschlug, machte ich mich nicht wie gewohnt auf den Weg zum Dämmerungstraining. Etwas hielt mich davon ab, etwas, das ich schon in der realen Welt auf der Grenze zwischen Wachen und Schlaf gehört hatte: ein Lachen. Das grollende Schnurren des Mantikors. Zu sehen war der Löwe mit dem Menschengesicht allerdings nicht. Auch nicht, als ich aus dem Bett stieg und darunter nachsah.
»Hallo?«, fragte ich in das leere Zimmer hinein.
Eine Antwort erhielt ich nicht. Dafür klappten die Türen meines Kleiderschrankes auf und ein Abendkleid aus weißem Glitzerstoff sowie dazu passende silberne Ballerinas schwebten heraus. Die Ärmel des Kleides bestanden aus durchscheinender Seide, der Ausschnitt war über und über mit perlmuttglänzenden Pailletten bestickt. Wie ein Gespenst flog es durch mein Zimmer und landete auf meiner linken Schulter. Skeptisch drehte ich es in meinen Händen hin und her und befühlte die den Stoff durchziehenden silbrigen Fäden zwischen Daumen und Zeigefinger. Dies war eines der Kleider, die meiner Seele gehört haben mussten, als ich noch eine Schlafende gewesen war.
»Niemand?«, rief ich. »Was soll das?«
Der Mantikor lachte erneut. Oder war es ein Knurren?
Unsicher drehte ich mich um die eigene Achse, versuchte auszumachen, aus welcher Ecke des Raumes seine Stimme kam. Doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen. »Das ist echt gruselig, weißt du das? Bitte, zeig dich, wenn du mit mir sprichst.«
»Bedaure«, sagte der Mantikor. »Und jetzt beeil dich mal ein bisschen mit dem Umziehen. Wir sind spät dran. Ich warte vor dem Südportal auf dich.«
»Weshalb?«
»Dies ist Eisenheim«, antwortete der Mantikor leise, als wäre er mit einem Mal weit entfernt. Noch während er sprach, senkte sich seine Stimme zu einem Flüstern. »Manchmal sollte man auf den Mantikor hören.«
Ich seufzte. Dieses merkwürdige Wesen machte mir definitiv Angst. Was wollte es von mir? Warum zeigte es sich nicht? Weshalb konnte es sich nicht verständlich ausdrücken? Ich trat ans Fenster und sah in die nächtliche Stadt hinaus. Schwärzliche Hausdächer, die sich aneinanderreihten, Qualm und Schornsteine in der Ferne, dahinter das Nichts. Und unten, vor dem Südportal der Kathedrale, schien tatsächlich ein Wesen, halb Löwe, halb Mensch, auf und ab zu schleichen.
Kurz entschlossen streifte ich Hose und Pullover ab, zog mir den glitzernden Hauch von Nichts über den Kopf, schlüpfte in die dazugehörigen Schühchen und trat vor den Spiegel. Was mir entgegenblickte, ließ mich schlucken. Nicht nur, dass ich wie eine Braut aussah, das Kleid hatte auch noch den gleichen Ton wie meine weiß schimmernde Schattenhaut! Einzig meine Augen und mein dunkles Haar, das sich in einzelnen Locken in meinem Nacken und über meine Schultern wand, standen im Kontrast zur puren Helligkeit. Rasch klemmte ich mir meinen grauen Mantel unter den Arm und trat auf den dämmrigen Flur hinaus.
Unter den dünnen Sohlen der Ballerinas fühlten sich die Teppiche noch eine Spur flauschiger an, als ich darüber in Richtung Ausgang lief. Ich war noch nicht weit gekommen, als sich hinter mir Schritte näherten. Eine bleiche Gestalt trat neben mich. Ich spürte, wie Marians Blick von der Seite einmal an mir hinunter- und wieder heraufglitt.
»Nettes Kleid.«
»Danke.« Wir stiegen nebeneinander die Treppe hinab.
»Gehst du zu einer Party?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Kannst du mich bei Madame Mafalda entschuldigen?«
»Nein. Das Dämmerungstraining schwänze ich heute. Ich habe etwas zu erledigen im –«
»Krawoster Grund?«
Er schwieg, was ich als Zustimmung deutete. Wir durchquerten die Eingangshalle. Marians Sohlen klapperten auf dem verspiegelten Boden. »Mir gefällt dein Kleid wirklich«, sagte er und hielt mir eine der schweren Flügeltüren auf. »Du siehst darin aus wie eine Elfe.«
Die eisige Nachtluft schlug uns entgegen. Hastig schlüpfte ich in meinen Mantel und zog ihn mir fest über der Brust zusammen. »Ich finde es scheußlich.«
»Wirklich?«
Marian trat unmerklich auf mich zu. Sein Daumen fuhr über den glitzernden Saum des Ärmels, der aus dem Mantel hervorlugte, und strich dabei ganz leicht über meinen Handrücken. Ich erschauderte und plötzlich war da wieder eine der immer seltener werdenden Erinnerungen an das Leben meines
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