Nacht aus Rauch und Nebel
anderen Ichs.
Marian und ich tanzten miteinander. Wir befanden uns in einem Saal voller Menschen. Kerzen flackerten auf Kandelabern unter der Decke, Musik schlängelte sich wie Rauchschwaden durch die Menge und es roch nach teuren Parfums und Zigarren. Marian trug einen Frack und ich war tatsächlich in das funkelnde Abendkleid voller Pailletten gehüllt. Mit der einen Hand hielt er meine Taille, mit der anderen meine behandschuhten Finger. Es war brechend voll, doch wir sahen nur einander, unsere Blicke ineinander verhakt. Die Musik ließ uns schweben.
Mein Bewusstsein kehrte ins Jetzt zurück, wo Marian wieder von mir abgerückt war und mich gedankenverloren betrachtete. »Weißt du es wieder?«
Ich nickte.
»So war es einmal. Es kommt mir vor, als wäre diese Nacht schon ewig her.«
»Es war in einem anderen Leben«, sagte ich und trat nun meinerseits auch einen Schritt von ihm zurück. Dann noch einen.
Noch lächelte Marian mich an, doch dieses Lächeln würde ersterben, sobald er sich von mir abwandte und auf den Weg in die Siedlung der Arbeiter machte. Er würde heute Nacht wieder zu ihr gehen, wie immer. Zu dem Monster in den Minen, das seine Schwester war. Ohne ihr helfen zu können. Nacht für Nacht. Er sah, wie sie litt, und konnte nichts mehr für sie tun.
Ich hatte ihm das angetan.
»Warte«, sagte Marian, doch ich hatte ihm bereits den Rücken gekehrt. Mit raschen Schritten umrundete ich die Kathedrale und traf schließlich auf den Mantikor, der mich mit einem Schnurren begrüßte. »Na endlich«, murmelte er und schüttelte die Löwenmähne. Die Straßen empfingen uns mit schützenden Armen wie die Dunkelheit einen Dieb.
Wir wanderten lange durch das Gewirr der Gassen, legten schließlich sogar ein Stück in einem fliegenden Taxi zurück. Die Fahrt dauerte nicht lange und ich verbrachte die meiste Zeit damit, zu beobachten, was sich bei den Pyramiden von Giseh abspielte. Überall um die monumentalen Bauwerke herum wuselten Arbeiter, die Baumaterialien trugen oder Kräne und Bagger bedienten. Darüber kreisten Schattenreiter, um die Schlafenden zu beaufsichtigen. Mein Vater setzte seinen wahnwitzigen Plan also in die Tat um: Er ließ ein riesiges Aquarium errichten. Die Frage, ob dabei wohl die Grotte mit dem lackschwarzen See entdeckt oder gar zugeschüttet werden würde, nagte an mir. Obwohl es mir natürlich egal sein konnte. Der Weiße Löwe würde für immer in seinem Versteck bleiben, das hatte ich mir geschworen. Er musste dort bleiben. Und doch …
Irgendwann war da ein Flirren am Rande meines Gesichtsfeldes, kaum wahrnehmbar. Oder irrte ich mich? Ich hatte das Gefühl, eine Spannung würde in der Luft liegen, die stets verschwand, sobald ich mich auf sie konzentrierte. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellten sich auf, als wir kurz darauf die Philistergasse hinunterliefen. Die Erinnerung an das Erdbeben in der vergangenen Woche ließ mich erschaudern. Unwillkürlich legte ich den Kopf in den Nacken und suchte den Himmel nach Wolkengebirgen ab, doch er war so dunkel und klar wie in den letzten Nächten.
»Spürst du es auch?«, fragte der Mantikor, der sich noch immer weigerte, mir zu sagen, wer er war und wo wir denn nun hingingen.
Ich nickte. »Ja. Was ist das?«
Der Mantikor rollte seinen Skorpionenschwanz aus und ließ ihn klackernd durch die Luft peitschen. »Wir müssen uns beeilen.«
Die Philistergasse endete an einem Torbogen aus steinernen Kuben. Ein bisschen sah das Ding aus, als hätte ein Riesenbaby mit Bauklötzen aus Fels gespielt und dabei zufällig den gewölbten Eingang des Backands errichtet. Ich war bereits einmal hier gewesen, doch damals hatte mich der Kanzler mit seinem Zeppelin hergebracht. Den Fußweg kannte ich ebenso wenig wie das wahre Künstlerviertel, das begriff ich erst jetzt.
Hatte das Moulin Rouge die Atmosphäre eines altehrwürdigen Theaters ausgestrahlt, so zeigte sich das Backand hinter dem steinernen Bogen schmutzig, verfallen, und doch zog es mich an. Der Stadtteil bestand aus einem einzigen Gebäude von solch monströsen Ausmaßen, dass man es nicht mit einem Blick erfassen konnte. Ein bisschen erinnerte es mich an ein Korallenriff, über die Jahre gewachsen zu einem skurrilen Gebilde. Es war unmöglich zu sagen, welcher der vielen Türme und Erker wohl zuerst dagewesen war.
Wir betraten die Eingeweide eines Ungeheuers, Wege über Treppen und Dächer, die sich verworren und ohne Plan von dem Torbogen aus in alle Richtungen wanden,
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