Nacht aus Rauch und Nebel
herausgefunden hatte. Durch den Angriff der Schattenreiter und Ylvas Beinaheverwandlung hatte ich überhaupt nicht mehr daran gedacht. Doch jetzt …
»Hier entlang«, rief ich Sieben von einem Treppenaufgang zurück. Wir bogen links ab und folgten einem ausgetretenen Teppich, der an verwitterten Türen und Erkern voller Gerümpel vorbeiführte.
Die Gemächer der Dame befanden sich in einem abgelegenen Teil des Gebäudes, der zudem fast vollständig dem Nichts anheimgefallen war. Es war den Mitgliedern des Bundes strengstens untersagt, die Dame dort zu stören, aber ehrlich gesagt interessierte mich diese Regel momentan nicht die Bohne. Die Dame schlich in der realen Welt hinter mir her, sie sollte mir gefälligst ins Gesicht sagen, was sie von mir wollte.
Schließlich erreichten wir eine breite Flügeltür mit verschnörkeltem Rahmen. Die Lackierung war gesplittert, darunter zeigten sich gräuliche Rillen wie Kratzspuren. Ich klopfte, rechnete allerdings nicht mit einer Antwort und erhielt auch keine. Sieben, dem das Ganze nicht geheuer zu sein schien, versteckte sich hinter meiner Schulter und dimmte seine Helligkeit so stark, dass ich kaum noch etwas sehen konnte. Weit und breit brannte keine Lampe.
Vorsichtig legte ich die Fingerspitzen an das Holz, fühlte die brüchige Farbe und den Wind, der dahinter heulte, vermutlich weil das Nichts die Wände eingerissen hatte. »Hallo«, rief ich und klopfte noch einmal. Ein Brummen war zu hören, doch ansonsten geschah nichts. Meine Hand strich über den Lack und näherte sich der Klinke, umschloss das eiskalte Metall. Kurz entschlossen drückte ich sie herunter. Mit einem Knarren schwang der rechte der beiden Türflügel nach innen in pechschwarze Dunkelheit.
»Sei nicht so ein Schisser«, raunte ich Sieben zu. »Wir brauchen Licht. Komm schon.«
Der Heliometer schwebte neben mein Gesicht und flammte so plötzlich auf, dass ich zusammenfuhr.
Blinzelnd erkannte ich etwas, das früher einmal ein Wohnzimmer gewesen sein musste. Parkettboden mit einem geknüpften Läufer darauf, Seidentapeten und die Hälfte einer Ottomane kündeten davon. Der Rest des Raumes bestand aus tosendem Nichts. Hier und da lagen ein paar Werkzeuge herum, ein Haufen Ziegelsteine, eine Maurerkelle. Anscheinend waren die Schlafenden, die Notre-Dame nach jener schrecklichen Nacht wieder in Schuss bringen sollten, noch nicht fertig mit ihrer Arbeit. Nichtsfetzen wirbelten über den ausgefransten Fußboden und nagten an einem Sack Mörtel.
Ich seufzte. Von der Dame selbst fehlte jede Spur. Dafür saß jemand anderes inmitten des Chaos, ließ seinen Skorpionschwanz über die Bruchkanten des Parketts klackern und starrte in das Unfassbare.
»Hallo!«, sagte ich.
Doch der Mantikor antwortete nicht, sondern sah weiterhin reglos das Nichts an. Langsam trat ich näher heran und setzte mich schließlich neben ihn. Gemeinsam schwiegen wir eine Weile.
»Was ist mit dir?«, fragte er irgendwann. »Fürchtest du dich?«
»Ja«, sagte ich und dachte einen Moment nach. »Aber nicht vor dem Nichts, sondern davor, dass ich vielleicht nichts tun kann, um es aufzuhalten.«
Der Mantikor wiegte den Löwenkopf hin und her. »Das ist weise von dir.«
»Das Nichts schleicht sich immer weiter heran«, erklärte ich. »Was hat das zu bedeuten?«
»Mhm«, machte der Mantikor. »Wer weiß?«
Ich nagte an meiner Unterlippe. »Warum sollte ich Arif nach dieser Transportation fragen? Kennst du den Rest der Prophezeiung? Und wenn Desiderius dein Freund war: Weißt du, ob er noch irgendwo dort draußen ist?«
Der Mantikor schloss die Augen. »Ich bin nur ein Niemand, der einen alten Freund vermisst. Ich weiß alles und nichts. Und es ist mir verboten, in das Geschehen einzugreifen. Vielleicht existiere ich auch nur in deinem Kopf? Ich kann nichts für dich tun.«
Seine mächtigen Pranken fuhren über das Parkett, das Geräusch von Krallen, die auf Holz kratzten, mischte sich in das Tosen des Nichts.
»Bitte«, sagte ich. »Wir können Eisenheim doch nicht untergehen lassen. Außerdem habe ich Angst, dass der Weiße Löwe und ich etwas mit alledem zu tun haben könnten.«
»Wirklich?« Der Mantikor sah mich aufmerksam an. »Weißt du, genau das befürchtet auch Marian. Er fragt sich schon länger, ob du wohl diejenige bist, die das Unglück über Eisenheim gebracht hat.«
»Ja, das habe ich auch schon vermutet«, sagte ich und stutzte. »Aber warum befürchtet er das eigentlich?«
»Nun, das solltest du nicht mich
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