Nacht der Begierde (Geraldine Guthrie) (German Edition)
das Leben schwer machte, ging Geraldine meist zu ihrer Oma. Sie blickte auf die Uhr und sah, dass es schon fast 4:00 Uhr morgens war, eine schlechte Tageszeit um anzurufen. Sie beschloss, sich noch ein paar Stunden hinzulegen, obwohl sie nicht müde war, und gleich nach dem Aufstehen bei ihrer Großmutter anzurufen und sich für einen spontanen Besuch anzukündigen.
Als Geraldine noch einmal ans Fenster trat und in die Dunkelheit zwischen Straßenbeleuchtung und Wohnhaus blickte, meinte sie, in der Ferne ein Rauschen zu hören. Aber der Sicherheitsglas dämpfte auch ihre neue Fähigkeit stark ab und so war sie nicht sicher, ob sie wirklich etwas wahrnahm.
* * *
Geraldines Großmutter wohnte am Rande von Bristol. Bristol lag etwa 40 Meilen von Tallahassee entfernt an der Route 20, kurz bevor diese den Apalachicola überquerte. Es war ein verschlafenes Nest und ihre Großmutter wohnte in einem verschlafenen Häuschen.
Geraldine hatte um halb neun angerufen, als ihre Großmutter schon mit dem Frühstück fertig war und sich angekündigt.
"Ist etwas passiert?", fragte ihre Oma.
"Darf ich es dir nachher erzählen?"
"Bist du denn gesund?"
"Oma! Ich habe bereits wieder vier Tage gearbeitet. Natürlich bin ich gesund. Und es ist auch kein Mann. Jedenfalls glaube ich das nicht. Ich …"
Ihre Großmutter unterbrach sie: "Du glaubst nur, dass es kein Mann ist und weißt es nicht? Dann ist es mit Sicherheit ein Mann."
"Oma", seufzte Geraldine gespielt entnervt, "du ziehst mir schon wieder die Würmer aus der Nase. In diesem Fall ist es aber reichlich kompliziert."
"Aber es sind Männer im Spiel?"
"Natürlich sind Männer im Spiel. Die halbe Menschheit besteht aus Männern. Irgendwo sind sie doch immer im Spiel. Bevor du jetzt irgendetwas sagst, setze ich mich ins Auto und komme zu dir rüber. Bis gleich!"
Sie beendete das Gespräch, bevor ihre Großmutter noch etwas antworten konnte. Sie wusste, dass das kein Problem war.
Nicht ganz eine Stunde später bog sie in den kleinen Seitenweg ein, der ausschließlich zu dem Haus ihrer Großmutter führte. Diese stand winkend auf der Veranda. Wenn sie nicht im Garten arbeitete, trug sie immer recht elegante Kleidung. Auch diesmal hatte sie eine schöne Bluse an, deren zartes Grün zu dem etwas kräftigeren ihrer Hose passte. Ihr Haar war ordentlich frisiert und, allerdings durch eine Tönung, aschblond.
"Oma", begrüßte Geraldine sie, "du hast ja ein wenig Lippenstift benutzt. Es geht doch um meine Männer, nicht um deine."
"Komm erstmal rein, meine Liebe. Ich habe uns einen Kaffee gebrüht und noch rasch Muffins in den Ofen geschoben. Du hast ja kein Problem mit einem Gewicht."
Geraldine lächelte. Allerdings war dies nie ihr Problem gewesen. Dazu war sie einfach viel zu viel in Bewegung.
Die Küche von Geraldines Großmutter lag im hinteren Teil des Hauses, dicht bei den angrenzenden Bäumen und war angenehm kühl. Selbst in diesem Teil Floridas konnte es Ende Mai manchmal schon sehr heiß sein und dieser Samstag war wie geschaffen dafür, ein sehr sonniger und warmer Tag zu werden.
Als Geraldine die Küche betrat, duftete es bereits herrlich nach Zitrone und dem Buttermilchteig, aus dem ihre Großmutter die Muffins zubereitete. Ihre halbe Jugend hatte Geraldine mit diesem Gebäck verbracht.
Doch ihre Oma ließ sie nicht in der Situation schwelgen. "Nun setz dich erstmal hin und erzähl mir, was dich so beunruhigt. Hast du herausgefunden, wer der Mann war, der dich gerettet hat?"
Geraldine schüttelte den Kopf. "Die Polizei war nochmal bei mir. Aber die wissen auch nicht, was los ist! Doch ich muss dir eine andere Sache erzählen. Die hängt wohl mit meinem Unfall zusammen, aber ich weiß nicht, wie ich das einschätzen soll und es sind auch noch gestern Abend Dinge passiert."
Ihre Großmutter runzelte die Stirn. Sie machte den Mund auf, schloss ihn dann wieder und setzte sich neben ihrer Enkelin. Das war das Zeichen für Geraldine, dass ihre Großmutter jetzt bedingungslos zuhörte und sie nur noch durch Gesten und Mimik unterbrechen würde. Also fing Geraldine an zu erzählen. Sie begann mit dem Moment, als sie ihre Wohnung verließ, um sich mit Debra zu treffen, wiederholte jede Einzelheit des vergangenen Sonntags, von dem viel zu grellen Licht bis zu dem Überfall am Abend. Sie berichtete von ihrer veränderten Wahrnehmung, von der Reaktion der Bärin, vom Besuch des Inspectors und ihrem Gefühl, dass dieser ihr die Wahrheit verschwieg, bis zu dem Überfall,
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