Nacht der Begierde (Geraldine Guthrie) (German Edition)
Iaron und seiner Behauptung, sie wäre von einem Vampir angegriffen worden.
Während der ganzen Zeit blieb die alte Frau stumm und ermutigte Geraldine nur durch Kopfnicken, ihr gegenüber ganz offen zu sein. Als ihre Enkelin mit ihrer Geschichte geendet hatte, schwieg sie eine lange Zeit. Währenddessen spiegelte sich auf ihrem faltigen Gesicht jedoch, dass sie intensiv nachdachte. Schließlich sagte sie: "Ich kann dir auch keine Antwort geben, aber die Situation erscheint mir sehr ernst und sehr ungewöhnlich. Und es muss auf jeden Fall jemand sein, der mit solchen Sachen Erfahrung hat. Eigentlich kenne ich da nur eine Person. Das ist Uracha Missunderstood."
"Wer ist das?", wollte Geraldine wissen.
"Uracha war eine Klassenkameradin von mir, in der Grundschule. Schon damals war sie sehr ungewöhnlich und hatte etwas sehr exzentrisches. Sie war das erste farbige Mädchen in dieser Schule und war auch das einzige farbige Mädchen, bis 20 Jahre später die Rassentrennung komplett verboten wurde.
Uracha stammt aus einer Familie von Industriellen und ist sehr wohlhabend, immer noch, obwohl sie nie gearbeitet hat und auch nicht reich geheiratet hat. Sie hat ihr Geld wohl sehr gut angelegt. Aber ihr Leben hat sie, wie sie das sagt, der weißen Magie verschrieben. Sie behauptet von sich, sie sei eine Hexe. Ich weiß nicht, wie viel davon stimmt. Und ich will es auch gar nicht wissen. Doch immer, wenn ich sie besuche, stelle ich fest, dass ich ihr tief in meinem Herzen vertraue. Sie mag skurril sein und ein sonderbares Leben führen, aber sie ist auch sehr warmherzig und feinfühlig. Ich denke, es wird Zeit, dass du sie kennen lernst."
Geraldine nickte.
* * *
Als dann aber Geraldine ihren Wagen durch das offene, schmiedeeisernen Tor auf das Grundstück von Uracha lenkte, war sie sich nicht so sicher, ob die Idee ihrer Großmutter so gut wäre. Das Haus war ein alter Herrensitz, gebaut im klassizistischen Stil, wenn auch insgesamt nicht so groß und so prächtig, wie man das manchmal in Filmen sah. Die Säulen, die die Front schmückten, waren gerade dick genug, um sie noch als Säulen zu bezeichnen. Was dieses Haus aber besonders auszeichnete, war sein verwilderter Zustand. Eine Baumgruppe hatte sich fast komplett um das ganze Haus geschlossen und zahlreiche Kletterpflanzen und Epiphyten schlossen den Raum zwischen Haus und Bäumen. Es sah fast so aus, als wäre der Herrensitz mit seiner Umgebung verwachsen. Der Rasen vor dem Haus war verunkrautet.
Schon das Tor war baufällig gewesen und so sah auch das Haus aus. Das Dach war an einer Stelle durchlöchert. Geraldine hörte das Quieken von Opossums, die wahrscheinlich in dem Efeu ihre Jungen großzogen. Vögel kamen und gingen. Auch sie schienen nicht mehr zwischen Baum und Haus zu unterscheiden.
Am sonderbarsten aber war die Gestalt, die genau in dem Augenblick auf die Terrasse trat, als Geraldine ihren Smart ausstellte. Es war eine uralte Frau, viel älter als Geraldines Oma. Jedenfalls glaubte Geraldine das. Die Frau trug ein farbloses, fast unansehnliches Hauskleid und einen großen Strohhut. Unter diesem ragten silberweiße Haare hervor, die sich stark kräuselten.
Die Frau war sehr dürr. Die Gesichtshaut spannte sich über den darunter liegenden Schädel. Die Wangen hatten hohe und markante Knochen, bildeten darunter aber eine tiefe Grube, als würde die alte Frau ihre Wangenhaut nach innen saugen. Hals und Gesicht waren allerdings so faltig, dass man nicht das Gefühl hatte, einen mit Leder bespannten Schädel vor sich zu haben. Zudem musste die Frau in ihrem früheren Leben unglaublich schön gewesen sein. Sie hatte eine kleine, platte Nase, volle Lippen und ihre Augen wurden halb von den Lidern verdeckt, so dass es den Anschein hatte, als träume sie ein wenig.
Geraldine erfasste die zahlreichen Schmuckringe und Ketten, die die Frau trug, die Ohrringe, die aus einem Kranz rot emaillierter Blätter mit einer großen, weißen Kunstperle in der Mitte bestanden, die zahlreichen Armreife und auch die Brosche, die aus einer ovalen Fläche schön gemaserten, hellbraunen Holzes gefertigt war.
In der Hand hielt sie eine Zigarette, an der sie ab und zu zog.
Geraldine begrüßte sie. Sie wollte gerade erklären, woher sie komme und woher sie Urachas Adresse hatte, als sich die alte Frau umdrehte und Geraldine dabei mit der Hand ein Zeichen gab, ihr zu folgen.
Sie betrat das Haus. Die Diele war groß, doch ebenfalls nicht so pompös. Eine Treppe gegenüber der
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