Nacht der Begierde (Geraldine Guthrie) (German Edition)
hatte.
Mit nur mühsam beherrschter Stimme fragte sie: "Wer hat gesagt, dass ich gerettet werden soll?"
Urbano schüttelte den Kopf. "Wir müssen gehen. Wir müssen James davon überzeugen, dass sein Rudel uns hilft. Ohne sie werden wir es nicht schaffen."
Er schritt zum Ende des Steges und erreichte die Öffnung zwischen den Büschen. Offensichtlich wollte er keine weiteren Fragen beantworten.
"Und wer bist du?", fragte Geraldine. "Was bist du?"
Urbano drehte sich um. "Ich bin ein Archon."
"Ein was?"
"Vielleicht trifft die Bezeichnung Schamane mein Wesen am besten."
Damit verschwand er zwischen den Büschen. Geraldine blickte über die Wasseroberfläche. Mittlerweile war die Sonne vollständig aufgegangen und wärmte sie angenehm. Sie warf eine lange, goldene Bahn zu Geraldine hin, die nur dort durchbrochen wurde, wo eine Entenmutter mit ihren Küken hindurchschwamm. Ab und zu fiepten die Kleinen und die Mutter antwortete mit einem leisen glockenähnlichen Ton.
Geraldine seufzte laut. Dann folgte sie Urbano.
* * *
Die Hecke, die das Ufer säumte, wich rasch einem lichteren Baumbestand und ließ die Sonne bis auf den Boden dringen. Durch das tiefe Grün der Gräser streckten sich Blumen empor, viele kleine weiße Blüten, die ein wenig die Sterne aussahen, aber manchmal auch kräftigere Farben und größere Blüten, violette und rote.
Geraldine erblickte Urbanos breiten Rücken ein Stück weit vor sich. Wie er, nackt wie er war, zwischen den Eichen entlang ging, erinnerte Geraldine an ein schwülstig-erotisches Bild, ein wenig so, als sei diese Szene von einem Mädchen ausgedacht worden, oder, ergänzte sie in Gedanken, von einem schwulen Maler. Nur das weiße Pferd fehlte.
Sie ging ihm nach. Dabei beeilte sie sich nicht sonderlich. Ihr war es wichtig, dass sie die Umgebung gut erfasste. Sie glaubte zwar Urbano, dass er sie retten wollte und auch alles in seiner Macht stehende tun würde; ja, sie hatte sogar ein gewisses Vertrauen zu Iaron, den sie kaum kannte und dessen Absicht sie nicht einschätzen konnte. Und trotzdem hielt sie es für wichtig, nach Fluchtwegen Ausschau zu halten. Schaden konnte es auf keinen Fall.
In einiger Ferne standen mehrere Häuser. Geraldine konnte ihre massive Existenz fast spüren. Das waren keine billigen Bungalows und wahrscheinlich waren sie auch in Handarbeit erbaut. Die Dächer waren mit Ried gedeckt.
Urbano hatte bereits die Stelle erreicht, an der die Bäume aufhörten und das kleine Dorf anfing.
Eine Frau kam ihm entgegen. Sie war jung und schlank und sehr blass. Trotzdem zeigte sie eine fast majestätische Anmut.
"Ist sie das?", fragte sie. Ihre Stimme klang kühl und beherrscht. Geraldine war noch fünfzig Meter entfernt und hätte sie gar nicht hören können, wenn ihre Sinne nicht so ausgeprägt gewesen wären.
Urbano nickte nur.
"Sie hätten nie hierher kommen dürfen. Ihr hättet sie sofort umbringen müssen. Wenn sie vollständig gewandelt ist, wird der Älteste wissen, wo wir uns aufhalten."
"Sie wird sich nicht wandeln. Mein Bann ist stark. Und sie wird lernen, dem Vampirfluch ihre Kräfte entgegenzusetzen."
"Sie muss sterben."
"Du weißt, dass das nicht deine Entscheidung ist, Maria."
"James ist der gleichen Meinung. Ihr hättet es gleich tun sollen."
Geraldine war jetzt dicht bei ihnen. Die Frau, die von Urbano als Maria angesprochen worden ist, warf einen flüchtigen Blick auf die Wildhüterin. In ihrem Gesicht spiegelte sich kurz Hass und Ekel und verzerrte ihre eigentlich hübschen Züge. Ohne Geraldine eine weitere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, drehte sie sich um und sagte, während sie voranging: "Iaron wartet auf dich."
Urbano verharrte. Geraldine stellte sich neben ihn und überblickte die Szene.
Das Dorf bestand aus elf Häusern. Alle hatten schräge Dächer, aber nur ein Stockwerk. Sie standen in einem losen Kreis um eine besonders große Eiche herum, die genauso wie alle anderen Bäume ihrem Wildwuchs überlassen worden war. Zwischen den Häusern lagen Beete, auf denen Bohnen, Kürbisse, Erbsen und andere Gemüsearten wuchsen. Einige schlicht gekleidete Frauen arbeiteten dort. Sie hackten den Boden. Eine Frau pflückte Bohnen. Weiter entfernt spielten drei nackte Jungen mit einem Rugby-Ball werfen und fangen. Sie mussten zwischen sieben und zehn Jahre alt sein.
Ein einziges Haus stach besonders hervor. Es lag von Geraldine ausgesehen rechterhand und hatte, im Gegensatz zu den anderen Häusern, zwei Stockwerke und eine
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