Nacht der Begierde (Geraldine Guthrie) (German Edition)
oder brauchst du das gerade nur, um den Überfall auf dich zu verarbeiten?"
"Natürlich sind die drei tot. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie gestorben sind. Und was heißt das überhaupt, ich solle mit den Vampiren aufhören? Ich habe dir die Wahrheit gesagt."
"Gerry, ich will gar nicht sagen, dass ich dich nicht ernst nehme. Im Gegenteil. Endlich habe ich die Chance, ein wenig von dem zurückzugeben, was du mir meine ganze Jugend über geschenkt hast, die ganze Aufmerksamkeit, die Liebe …"
"Jetzt hör aber mal auf. Es ist wirklich alles so passiert, wie ich es dir erzählt habe. Ich verarbeite da nichts. Und ich weiß auch mittlerweile, was in dieser Nacht passiert ist, in der ich überfallen worden bin."
"Tatsächlich? Und was?"
Geraldine erzählte kurz, was sie von Urbano wusste. Doch sie kam nicht zu Ende. Als sie gerade von dem Bann erzählen wollte, unterbrach Jaclyn sie.
"Vielleicht solltest du ins Krankenhaus zurückgehen. Es ist doch klar, dass du ein posttraumatisches Stresssymptom hast. Ich kenne das total gut. Als unsere Eltern gestorben sind, habe ich mich auch in eine Fantasiewelt zurückgezogen. Das ist nichts Schlimmes. Aber wenn wir uns unterhalten, dann unterhalten wir uns nur über die Realität. Wo also bist du?"
Geraldine überlegte. In diesem scharfen Ton hatte ihre Schwester noch nie mit ihr geredet und sie vermutete, dass Jaclyn jeden weiteren Versuch, sie von der Existenz der Vampire zu überzeugen, nicht akzeptieren würde. Aber sie konnte ihr jetzt auch nicht sagen, wo sie war, sonst würde sie sofort ins Auto steigen und zu Uracha kommen. Das aber hieße wiederum, dass sie möglicherweise die Nacht über blieb und damit selbst in tödliche Gefahr geriet. Keinesfalls würde sie das zulassen.
"Das kann ich dir im Moment nicht sagen. Aber ich bin in Sicherheit und werde so bald wie möglich zurückkommen."
"Du stellst doch nicht gerade irgendeinen Unsinn an? So etwas wie jemanden umzubringen, weil innere Stimmen dir das einflüstern, oder?"
Geraldine lachte. "Keine Sorge. Ich habe nicht vor, jemanden zu erstechen", und ergänzte in Gedanken: außer ein paar Vampiren, "und Stimmen höre ich auch keine", abgesehen von den seltsamen Gefühlen, die durch den Vampirfluch ausgelöst wurden und ihr Handeln auf jeden Fall verändert hatten.
"Prima. Dann kannst du mir auch sagen, wo du bist."
"Jay, im Moment musst du mir einfach vertrauen. Der Mann, der mich gerettet hat, Urbano, ist bei mir und noch einige andere, die mich beschützen."
Offensichtlich kam ihre Schwester zu der Einsicht, dass sie ihre Strategie ändern musste. "Inspector Weizman war hier und hat nach dir gefragt. Ich soll ihm umgehend Bescheid sagen, wenn du dich meldest und ihm auch deinen Aufenthaltsort mitteilen. Soll ich ihm erzählen, was du mir erzählt hast?"
"Erzähl ihm doch erstmal gar nichts. Er braucht nicht zu wissen, wo ich bin."
"Es sind Menschen gestorben. Und außer Paul, Phil und Robert wirst auch du vermisst. Die Polizei sucht nach dir. Sie sucht nach deiner Leiche. Und jetzt sag nicht, dass sie nicht recht hätten. Sie haben recht. Kannst du mir wenigstens sagen, ob ich zu Paul Kontakt aufnehmen kann? Es kann nämlich nicht sein, dass er tot ist. Dann hätte die Polizei seine Leiche gefunden."
Geraldine wollte gerade den Mund aufmachen und erklären, dass es Vampire einäschert, wenn man sie tötet, als sie die Nutzlosigkeit jeder weiteren Erklärung begriff. Jaclyn wollte nicht daran glauben und sie hatte sich auf Geraldines Geschichte nur eingelassen, weil sie dachte, es sei eine durch Stress ausgelöste Halluzination.
"Weißt du was, Jay? Ausnahmsweise werden wir wohl nicht klären können, wer recht hat und auch nicht zu einer Einigung kommen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe, aber selbst, wenn du mir glauben würdest, wollte ich dich nicht dabei haben. Noch weniger wirst du mir helfen können, wenn du mir nicht glaubst."
Am anderen Ende der Leitung war ein gespieltes Aufstöhnen zu hören. "Wo bist du, Gerry?"
"Ich melde mich bei dir, sobald ich wieder kann. Mach dir bitte keine Sorgen. Es wird alles gut."
Jaclyn begann wieder zu schreien. "Wage es nicht, das Gespräch zu unterbrechen …"
Geraldine drückte auf den Aus-Knopf. Dann schaltete sie ihr Handy ganz ab. Eine Träne kullerte ihre Wange herunter. Dies war das erste Mal, dass sie sich mit ihrer Schwester so gestritten hatte. Und sie war sich nicht sicher, ob ihre Beziehung dadurch nicht einen schweren Riss erhielt.
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