Nacht der gefangenen Träume
durchaus ein wenig umständlicher, es im ersten Stock zu tun«, sagte sie. »Durchs Fenster zu kommen, meine ich. Die Leiter habe ich im Keller gefunden. Ich glaube, sie gehört keinem.«
Frederic legte einen Finger an die Lippen. »Hendrik schläft. Denk ich.«
»Aber du«, flüsterte Lisa und schloss das Fenster ganz leise. »Du hast nicht geschlafen, oder?«
Er schüttelte den Kopf und bot ihr einen Platz auf dem Bett an. Eine Weile saßen sie dort schweigend nebeneinander, die Rücken an die Wand gelehnt, und fühlten die Dunkelheit zwischen sich. Mit Lisa zu schweigen war etwas ganz anderes als mit Hendrik zu schweigen. Es war kein Schweigen anstelle von Worten. Es war das Schweigen vor den Worten. Er spürte, wie sie diese Worte zurechtlegte, und schließlich sagte sie: »Ihr wart ziemlich … laut. Sicher geht es mich nichts an, aber: Ist etwas Fürchterliches passiert? Ist jemand gestorben oder so?«
»Ja«, sagte Frederic.
»Oh. Wer?«
»Meine Mutter. Vor acht Jahren.«
»Und – heute Abend?«
»Heute Abend ist niemand gestorben. Obwohl es um einen antiken Sarg ging, den ich angeblich kaputt gemacht habe. Aber ich habe ihn nicht kaputt gemacht, Lisa. Ich bin nur aus Versehen an den geheimen Mechanismus gekommen, der ihn öffnet. Und überhaupt glaube ich nicht, dass es je ein Sarg war. Ich glaube, unser Direktor Bruhns hat das Ding extra aushöhlen lassen, um seine Maschine darin zu verstecken.«
»Das ist schlau«, sagte Lisa. »Was für eine Maschine?«
»Sie pumpt Träume ab. Aus den Köpfen von Leuten. Und Pudding hinein. Stattdessen. Und die Träume, hat Bruhns gesagt, sind der Nährboden für die Ideen. Wenn er sie stiehlt, hat er lauter brave Kinder.«
»Das ist auch schlau«, sagte Lisa. »Aber deine hat er nicht gekriegt, oder?«
»Entschuldige mal …« Frederic versuchte, im Dunkeln ihr Gesicht zu sehen. Doch die Nacht verbarg es vor ihm. Alles, was er sah, war, dass ein kleiner Schwarm schwereloser Seifenblasen aus ihrem Haar aufflog, als sie es zurückstrich. »Du … glaubst mir diesen Unsinn?«
»Ist es Unsinn?«, fragte Lisa. »Es hörte sich ganz logisch an.«
»Irgendetwas, fürchte ich«, flüsterte Frederic, »stimmt nicht mit dir, Lisa. Du hast irgendwie vergessen … erwachsen zu werden.«
»Kann sein«, gab Lisa zu. »Stört es dich?«
Frederic schüttelte den Kopf. Und dann erzählte er Lisa alles. Von Anfang an. Er hatte es schon einmal jemandem erzählt, Änna – aber irgendwie war es anders, es Lisa zu erzählen, die so viel älter war als er. Als würde die Geschichte dadurch wahrer.
Als er spät in dieser Nacht einschlief, hing noch immer ihr Seifenblasengeruch in seiner Nase. Lisa hatte die Decke um ihn festgesteckt und war durchs Fenster verschwunden, genau wie sie gekommen war, ihre Füße eine Handbreit über den Sprossen schwebend. Doch ehe sie gegangen war, hatte sie sich ganz nah zu ihm hinuntergebeugt und gewispert: »Wenn irgendetwas passiert, Frederic, wenn du irgendwann nicht weiterweißt, bitte, sag mir Bescheid. Es ist eine verfluchte Ungerechtigkeit, dass deine Mutter damals … Du weißt schon. Aber es muss doch jemand auf dich aufpassen! Und Hendrik scheint mir nicht der geeignete Kandidat dafür zu sein.«
»Auf Hendrik muss auch jemand aufpassen«, hatte Frederic gemurmelt.
Und jetzt war sie fort. Und jetzt … aber er schlief ja schon längst.
Am nächsten Morgen schlief Frederic lange. Tagsüber gingen er und Hendrik sich aus dem Weg. Und auch am Samstag und Sonntag schwiegen sie. Dann kam der Montag. Es war nach elf, als Frederic aufwachte. Hendrik saß im Wohnzimmer, arbeitete an irgendeinem Laptop und trank offenbar seit Stunden die gleiche Tasse kalten schwarzen Kaffee. Er machte erst Frühstück, als Frederic auftauchte, und klapperte etwas zu laut mit Tassen und Besteck. Ja, Hendrik – verwunderlich, aber wahr – schien verlegen zu sein. Vielleicht war es ihm peinlich, dass er neulich so herumgeschrien hatte.
Erst nach zwei Marmeladenbrötchen – durch die er sich hindurcharbeitete, als wären sie eine Lateinarbeit – sah er von seinem Frühstücksbrett auf und blickte Frederic an.
»Ich habe Angst, Frederic«, sagte er ganz leise. »Dass dir etwas geschieht, wie Anna. Ich habe eine verdammte Angst.«
»Ich auch«, sagte Frederic. Hendrik streckte eine Hand über den Tisch und drückte Frederics Hand. In diesem Moment klingelte es.
Hendrik seufzte, stand auf und ging in den Flur hinaus, zur Sprechanlage. Frederic
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