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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Kunst darf man da nichts sagen. Ich habe das Paket an die Schule liefern lassen, weil ich vormittags so gut wie nie zu Hause bin, um Post entgegenzunehmen. War wohl ein Fehler. So. Wie wäre es, wenn wir jetzt einfach zusammen in das Zimmer Ihres Jungen gehen und nachsehen, ob mein Paket dort zufällig herumsteht?«
    Wieder Stühlerücken.
    »Von mir aus«, sagte Hendrik zögerlich.
    Frederic konnte hören, dass er zu zweifeln begann: Hendrik hatte Angst, sie würden das Paket wirklich in Frederics Zimmer finden. Frederic sah sich rasch um. Einen Augenblick lang befürchtete er selbst, es könnte auf einem der Regale stehen. Josephine traute er alles zu. Doch zwischen seinen Werkzeugen und Büchern war kein Paket zu sehen.
    Zwei Paar Schritte näherten sich jetzt Frederics verschlossener Tür. Er erwog, aufzuschließen und Bruhns unschuldig ins Gesicht zu lächeln. Es war verlockend.
    »Falls wir es nicht finden, würde ich ihn gern noch einmal nach St. Isaac mitnehmen«, sagte HD Bruhns da. »Zur Gegenüberstellung mit den fünf Zeugen.«
    »Wenn es unbedingt sein muss, bitte«, murmelte Hendrik. »Und das alles für ein bisschen Knetmasse? Ich muss in einer Viertelstunde bei einem Kunden sein. Na, mich brauchen Sie wohl nicht bei einer Gegenüberstellung.«
    »Natürlich nicht. Ich bin mit dem Auto da. Ich kann Frederic mitnehmen und später zurückbringen.«
    Vielen Dank, nein. Verschiedene Szenarien jagten sich gegenseitig durch Frederics Kopf: Georgs Eisenhände. Josephines Maulfinger. Bruhns’ Zähne.
    »Frederic?« Rütteln an der Tür. »Mach auf!«
    Er antwortete nicht. Stattdessen schnappte er sich seinen Schulrucksack und stopfte eine Decke, ein paar Werkzeuge und sein Portemonnaie hinein. Den besonderen Dietrich steckte er in die rechte Hosentasche.
    »Frederic! Was soll das? Das hat doch keinen Sinn!«
    »Wenn er ein gutes Gewissen hätte« – das war Bruhns –, »würde er sich wohl kaum einschließen.«
    Frederic setzte den Rucksack auf, warf einen letzten prüfenden Rundblick ins Zimmer, drehte sich um und öffnete das Fenster. Mist. Lisa hatte ihre Leiter leider nicht stehen lassen. Er musste springen. Es war nur ein Stockwerk. Dennoch …
    Das Rütteln an der Tür wurde jetzt ungeduldiger.
    »Warten Sie«, sagte Hendrik, »wir wollen die Tür nicht ausreißen. Ich habe einen Ersatzschlüssel.« Seine Schritte entfernten sich, und Frederic biss auf seine Unterlippe. Eins, zwei – drei: Er sprang, kam unten unsanft auf und ging in die Knie, rannte los, die Straße entlang … bog ab, bog wieder ab … Verdammt! Er hatte unbewusst seinen eigenen Schulweg eingeschlagen! Er rannte genau auf St. Isaac zu! Vor dem Abrisshaus bremste Frederic. Die Tonnen! Er quetschte sich durch die Lücke in der Mauer, hob den Deckel der nächsten Tonne und schlüpfte hinein.
    Gleich darauf saß er in metallener Dunkelheit, durch deren Rostlöcher das Licht nur punktförmig hereinsickerte, atmete alten Modergeruch und wartete, dass sein Herz sich beruhigte. Zu Hause hatten sie das offene Fenster sicher längst entdeckt – Hendrik und Bruhns.
    Richtig: Da waren ihre suchenden, rufenden Stimmen. Frederic saß ganz still und stellte sich so fest vor, er wäre Altpapier, dass er beinahe Angst bekam, es wirklich zu werden.
    Am anderen Ende des Stadtviertels bemerkte Änna, dass etwas anders war.
    Schon am Morgen wusste sie, dass es wieder einer dieser durchstrukturierten Tage werden würde: Schule, eine halbe Stunde Zeit zum Mittagessen, Klavier, Hausaufgaben, Krankengymnastik. Es hatte Hunderte dieser Tage in ihrem Leben gegeben – ach was, Tausende. Aber etwas war anders heute . Es kam ihr vor, als wäre sie aus einem langen Traum erwacht. Traum … Sekunde: Was hatte sie geträumt? Es war etwas Angenehmes gewesen, etwas Süßes – richtig: Schokoladenpudding. Eine unendliche Menge von Schokoladenpudding. Er hatte sich bis zum Horizont erstreckt … Doch warum kam ihr dies alles so falsch vor? Etwas war zwischendurch geschehen, zwischen den Tausenden von durchstrukturierten Tagen und diesem Tag heute – etwas Un-strukturiertes. In der Schule sahen sie Änna so komisch an. Die anderen in der Klasse wussten es. Sie selbst hatte es vergessen, aber sie wussten es. Vorn war ein leerer Platz. Einer fehlte da. Ach ja, Frederic. Sie hörte in der Pause, man habe ihn hinausgeworfen, und hinter ihren Augen stiegen Tränen auf.
    Warum berührte es sie, dass Frederic nicht mehr da war? Er hatte nicht nach St. Isaac

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