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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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gepasst, er war seltsam gewesen, beinahe schon unheimlich. Änna hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt.
    Dennoch waren da die Tränen, die ihren Blick verschleierten. Sie wollte mit dem Fahrrad zur Klavierstunde fahren, doch das Fahrrad fehlte. Und wieso trug sie eigentlich diesen alten kratzigen Wollpullover? Er roch gut. Er kam ihr unendlich tröstend vor. Aber woher hatte sie ihn?
    Frederic blieb lange in der Tonne sitzen, döste, dachte ein wenig an Diogenes, diesen griechischen Philosophen, der ebenfalls in einer Tonne gelebt hatte, und verließ sein Versteck schließlich gegen Nachmittag, als es ihm endlich sicher erschien. Zunächst schlich er im Schatten der Hauswände entlang wie ein Schwerverbrecher in einem deutschen Acht-Uhr-Fernseh-Thriller. Hinter jeder Ecke glaubte er, Bruhns zu sehen oder Josephine. Oder Hendrik, der ihn verzweifelt suchte und der vielleicht noch immer nichts verstand. Er begegnete keinem von ihnen.
    Es dauerte, bis er auf die Schwerverbrecherweise zu Ännas Haus gelangte.
    Aber Änna war nicht da.
    Frau Blumenthal sah ihn mit geschlossenen Augen an und lächelte ein sorgloses Lächeln in sein Gesicht. »Änna ist bei der Krankengymnastik«, erklärte sie. »Sie wird erst in zwei Stunden wiederkommen, zum Abendessen.«
    Krankengymnastik! Frederic verbiss sich eine Bemerkung. Er streunte weiter durch die Stadt, ziellos, ratlos, kaufte sich irgendwann bei einem Dönerstand eine Cola und sank auf einem der Plastikstühle vor dem Stand in sich zusammen. Von drinnen dröhnte laut und erbarmungslos Radiogedudel. Frederic schloss die Augen.
    »Und hier noch einmal die Vermisstenmeldung: Gesucht wird der dreizehnjährige Frederic Lachmann. Er hat« – der Radiosprecher schien ein Gähnen zu unterdrücken – »kurzes braunes Haar, ist ein Meter dreiundsechzig groß, trägt ein grün-gelb gestreiftes T-Shirt und Jeans. Gegen zwölf Uhr mittags verschwand er aus seiner Wohnung in der Hagenbergstraße acht. Wer Frederic gesehen hat, möge sich bitte beim nächsten Polizeirevier melden oder unter …«
    Moment. Eine der beiden Nummern war Hendriks. Die andere war die Telefonnummer von St. Isaac! Bruhns hatte also schon wieder seine Finger im Spiel. Frederic zog das schwarze Regencape aus seinem Schulrucksack, das er zur Sicherheit immer dort aufbewahrte, und schlüpfte hinein. Grün-gelb gestreiftes T-Shirt? Er hatte keinen Jungen mit einem grün-gelb gestreiften T-Shirt getroffen.
    Er sah auf die Uhr. 20 Uhr. Jetzt müsste Änna wieder da sein.
    Und Änna war da.
    Sie trug seinen Pullover, als sie die Tür öffnete. Frederic lächelte.
    »Du musst mir helfen!«, sagte er, leise und eilig. »Ich bin geflogen, das weißt du sicher schon, aber du ahnst nicht, wieso! Ich habe die Maschine gefunden! Sie war in dem Stein, auf dem ST. ISAAC steht. Aber du, du hast inzwischen das Paket gefunden, stimmt’s? Himmel, ich bin fast viereckig geworden vor Sorge, sie würden dich erwischen! Wo ist es jetzt? Was ist darin?«
    Er sah sich um, doch die Straße war leer.
    »Kann ich einen Moment reinkommen? Sie suchen mich. Bruhns ist hinter mir her. Er ist davon überzeugt, ich hätte das Paket …« Er brach ab. »Änna? Was ist los?«
    Sie schien durch ihn hindurchzusehen. Jetzt schüttelte sie verwirrt den Kopf. Dann strich sie nachdenklich mit der flachen Hand ihren Arm hinab. Einen Arm in kratziger Wolle.
    »Ist das … dein Pullover?«, fragte sie schließlich langsam.
    »Ja, sicher. Ich habe ihn dir geliehen. Meine Mutter hat ihn gestrickt, damals. Aber das habe ich dir schon erzählt.«
    »Wirklich?« Sie sah ihn fragend an. »Ich erinnere mich nicht.«
    Frederic begriff. Er stellte einen Fuß in die Tür. »Änna! Verdammt noch mal! Sie waren wieder da, stimmt’s? Bruhns und Fyscher und ihre Maschine! Sie haben deine Träume mitgenommen.«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Änna. »Ich habe noch drei Seiten Englisch zu lernen. Geh jetzt. Wenn sie dich finden müssen, dann müssen sie dich wohl finden.«
    Verzweiflung quoll in Frederic empor wie schaumige gelbe Abdichtungsmasse für Fenster. Sie verklebte seinen Mund; verklebte seine Worte.
    »Du – du wirst ihnen nicht sagen, dass ich hier war, oder?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht versprechen«, sagte sie. »Geh! Geh irgendwo anders hin, an irgendeinen Ort, von dem keiner weiß. Auch ich nicht.«
    Er zog seinen Fuß aus der Tür. Die Tür schloss sich. Klick.
    »Scheiße«, flüsterte Frederic. Mehr fiel ihm nicht

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