Nacht der gefangenen Träume
nötig.
»Kann ich hereinkommen?«, fragte Lisa.
»Wenn es sein muss.«
»Es muss.«
Die Wohnung der alten Dame war ein Durcheinander aus Wandteppichen, Staub und Spinnweben. Überall standen große Kisten mit Vorräten an Knäckebrot und auf dem Fensterbrett lag ein großer angenagter Gouda.
Lisa setzte sich an den Küchentisch, auf dem inmitten von Krümelspuren mehrere Geduldsspiele herumlagen. Sie ignorierte das Chaos.
»Frederic ist weg«, sagte sie knapp. »Er hat mir die ganze Geschichte erzählt, Vitamin A und so weiter. Sie wissen, wovon ich spreche.«
Die alte Dame nickte.
»Ich habe einen Verdacht, wo er ist«, fuhr Lisa fort. »Er hat mir von einer Halle erzählt, draußen vor der Stadt, in einem der Gewerbegebiete. Einer alten Fabrikhalle, wo Bruhns die Träume in Käfigen gefangen hält. Ich fürchte, er ist in einen solchen Käfig geraten. Es wäre typisch für ihn und für diese Geschichte, wenn genau das passiert wäre. Ich habe die Polizei angerufen. Sie behaupten dort, sie hätten Frederic an seinen Vater ausgehändigt. Haben sie aber nicht …« Sie brach ab. »Es nützt gar nichts, wenn ich so tue, als wäre ich der große Detektiv hier und hätte keine Angst. Ich habe Angst. Dieser Bruhns ist gefährlich.«
Die alte Dame nickte. Ihre kleinen Knopfaugen blitzten nervös.
»Was wissen Sie über ihn?«, fragte Lisa. »Und über die Fabrikhalle?«
»Wenn Sie aus mir herauskriegen wollen, wo diese Fabrikhalle ist, vergessen Sie’s. Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich bin durch die Kanalisation entkommen.«
»Entkommen?«
»Sicher.« Die alte Dame dippte eine Reihe Krümel vom Tisch auf und leckte ihren krummen Zeigefinger ab. »Was dachten Sie denn? Ich bin ein Traum. Ein entkommener Traum. Wenn Sie es genau wissen wollen, Bruhns’ Traum. Einer von seinen Albträumen.«
Lisa atmete tief ein und wieder aus. »Logisch«, sagte sie dann. »Ein Albtraum von Bruhns. Er musste einen Albtraum von jemandem haben, der sein Geheimnis verrät. Wenn auch auf Umwegen.«
»Ich bin nicht ganz böse. Aber ich bin auch nicht ganz gut. Ich war schwer genug, um nicht die ganze Zeit zu schweben. Deshalb bin ich in den Gully gekrochen. Ziemlich dumm von Bruhns, mich in einen der unteren Käfige zu stecken. Die haben alle einen Gully, von früher vermutlich, als die Halle noch zu einer Fabrik gehörte. Und ich habe eine gewisse …«, ihre Nase zitterte aufgeregt, »Affinität zu Gullys. Zur Kanalisation. Ich mag es dort unten. Ich gehe manchmal dort spazieren. Allerdings niemals zurück in Richtung Fabrik.«
»Aber Sie sind mit dem Traumwächter befreundet!«
»Ein wenig. Er ist wie ich. Wir sind zusammen geflohen, damals. Er ist zurückgegangen. Ich nicht. Er kennt den Weg. Ich nicht. Er besucht mich manchmal. Ich ihn nicht. Wenn er kommt, kommt er. Aber fragen Sie mich jetzt nicht, ob ich ihn rufen kann.«
»Was ich gerade wollte. Hat er kein Handy?«
»Er ist ein Traum! Woher soll er ein Handy haben?«
»Gott, das ist mir doch egal, woher. Hauptsache, er hat eins.«
»Hat er nicht.«
Lisa überlegte. »Schön«, sagte sie schließlich. »Noch mal zurück zum Anfang. Es gibt Gullys. In den unteren Käfigen.«
»Wenn Frederic dort ist, ist er unten«, sagte die alte Dame. »Nur einer der unteren Käfige hat eine Tür nach außen, durch die man einen Menschen kriegt. Die Schleusen der anderen Käfige sind zu klein.«
Lisa stand auf. »Gut. Es muss also nur noch jemand hingehen und ihm sagen, dass er durch den Gully fliehen kann.«
»Richtig«, sagte die Rattendame. »Womit wir wieder beim alten Problem wären. Keiner von uns weiß den Weg zu der Halle. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Ich glaube, Sie wollten gerade gehen.«
Kurz darauf stand Lisa auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks, den Finger nachdenklich an die Nasenspitze gelegt.
»Keiner von uns weiß den Weg«, murmelte sie und ging im Geiste noch einmal Frederics ganze lange Geschichte durch. »Doch!«, flüsterte sie dann ins düstere Treppenhaus. » Jemand weiß den Weg. Änna. Ich habe den Verdacht, dass Frederics sympathischer Schuldirektor sich ihre Träume inzwischen wieder unter den Nagel gerissen hat. Aber den Weg …, den Weg weiß sie trotzdem. Man muss sie nur dazu kriegen, sich an die Erinnerung heranzutrauen.«
»Das – das ist doch nicht möglich!«, stammelte Frederic.
»Offenbar schon«, antwortete der, der hinter ihm stand. Verwirrenderweise war der, der hinter ihm stand, nämlich auch Frederic. Er
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