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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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erwärmen. Isst du auch kalte Fleischklopse? Frederic zwei hat gesagt, du hast sicher Hunger.«
    »Im Augenblick«, sagte Frederic, »würde ich auch gefrorene Fleischklopse essen.«
    Änna hatte drei von den Dosen mit. Sie trank Tee aus einer Thermoskanne und beobachtete Frederic dabei, wie er sich durch alle Dosen hindurchaß, als wäre er jahrelang unter der Erde unterwegs gewesen.
    Angst macht hungrig.
    »Warum bist du hergekommen?«, fragte Frederic zwischen Dose eins und zwei. »Nur um mich mit Fleischklopsen und Thermoskannentee zu versorgen? Ich dachte, du hast Angst vor dem Abrisshaus … und davor, mitten in der Nacht von zu Hause wegzuschleichen …«
    »Du hast vor meinem Bett gestanden«, sagte Änna, ganz leise. »Mitten in der Nacht. Du warst durchs Fenster gestiegen. Und du hast meinen Namen gesagt. Wach auf, Änna, hast du gesagt. Wach auf. Aber du warst nur ein Traum. Und der Traum hat mir alles erzählt. Von deiner Flucht durch den Gully und von den Albtraum-Stimmen und überhaupt alles. Danach ist er verschwunden. Er ist wieder in meinen Kopf gestiegen, mit den anderen zusammen.«
    Sie hielt ihre Hand über die Kerze, um sie zu wärmen. »Nachdem er fort war, saß ich alleine in meinem Bett und dachte an dich. Und da ist wohl etwas in mir aus dem Bett gestiegen und hat die Dosen eingepackt. Etwas wollte dringend den echten Frederic sehen. Ich weiß auch nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Blöd, was?«
    »Ganz blöd«, sagte der echte Frederic. Und etwas in ihm rückte näher zu Änna und legte einen Arm um sie. Weil es so kühl war. Nur deswegen.
    So schliefen sie ein, später, zu zweit auf der Isomatte, die Decke um sie beide geschlungen. Nur weil es kalt war, natürlich. Die Kerze war lange ausgebrannt, unten im Haus sangen die Katzen und oben auf den verbliebenen Ziegeln sang der Regen. In Frederic jedoch sangen eine große, lähmende Erschöpfung und das unvergleichliche Gefühl, sich endlich eine Zeit lang um nichts mehr sorgen zu müssen. Ännas Haare rochen nach Regen und nach Oktober. Sie war noch immer ein Mädchen, und es war vollkommen unmöglich, mit einem Mädchen auf einer Isomatte zu liegen. Na, es sah ja keiner.
    »Morgen«, flüsterte er. »Morgen kümmern wir uns um alles. Morgen rede ich mit Hendrik und mit Lisa. Morgen finden wir heraus, was das Paket …«
    Er hielt inne und lauschte. Änna war eingeschlafen. Sie hörte ihn nicht mehr. Aber sie war lebendig, wirklich und warm. Sie war hier, ganz nah, und sie würde nicht verschwinden, nicht einmal an einem so düsteren Tag im Herbst.
    Er musste daran denken, ihr gleich morgen zu sagen, dass sie auf gar keinen Fall und niemals, nie ohne Helm Fahrrad fahren durfte.
    Der nächste Morgen blinzelte durch die zerborstenen Fenster herein, als müsste auch das Licht vorsichtig über die scharfen Scherben steigen, um sich nicht zu verletzen.
    Frederic rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf. Er merkte, dass er zitterte. Durch die Ecken des Abrisshauses pfiff der Wind in scharfen Böen. Frederic zog die Decke enger um sich. Die Erinnerung entwickelte sich nur langsam in seinem Hirn wie ein frischer Fotofilm.
    Änna. Oh Gott. Er hatte sie im Arm gehalten. Auf einmal war es ihm unglaublich peinlich. Er würde ihr noch einmal sagen, dass es nur wegen der Kälte …
    Wo war sie?
    War sie vom Abrisshaus aus in die Schule gegangen? Oder hatte der Unterricht noch gar nicht begonnen? Er stand auf, die Decke um die Schultern gelegt, und tappte durch die Räume. Dies war der Teil vom Haus, in dem noch Fotos an den Wänden hingen. Aber es waren weniger geworden. Richtig, der Traumwächter hatte gesagt, einer von den Albträumen würde darauf bestehen, die Einrichtung eines gewissen baufälligen Hauses zu fressen. Für ihn also hatte der Traumwächter nach und nach die Möbel und Bilder aus dem Abrisshaus geholt. Bald waren alle Bilder verbraucht.
    Aber es machte nichts. Bald , sagte eine Stimme in Frederics Kopf, kommt die letzte Nacht der gefangenen Träume .
    Vor einer der Fotografien blieb Frederic stehen. Da war er wieder, der Junge, den er bereits bei seinem letzten Besuch hier gesehen hatte. Diesmal schien er etwas älter zu sein und er hielt eine Urkunde in die Höhe. Oder nein, es war ein Zeugnis. Die Noten auf dem Zeugnis waren nicht zu erkennen, aber vermutlich waren sie gut, denn sonst hätte man den Jungen wohl kaum damit abgelichtet. Trotz der guten Noten lächelte der Junge nicht. Er kniff die Augen zusammen,

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