Nacht der Leidenschaft
klammerte sich der Raureif an die schlafenden Sträucher und Bäume, die die Kieswege säumten. Um zehn Uhr morgens waren die Läden der obersten Fenster bei den meisten Stadthäusern noch verschlossen. Ihre Bewohner erholten sich von den Vergnügungen der letzten Nacht.
Außer einem Hausierer mit Bauchladen, der auf dem gepflasterten Gehweg in Richtung Hauptstraße ging, und einem langbeinigen Konstabler mit elegant unter den Arm geklemmtem Schlagstock war die Straße ruhig und weit und breit kein Mensch zu sehen. Ein frostiger, aber wohlriechender Wind strich an den Häuserfronten vorüber.
Auch wenn Amanda kein Freund der kalten Wintertage war genoss sie die frische Luft; der Geruch von Abfall und Abwässern war bei diesen Temperaturen weniger störend als während der warmen Sommermonate.
Sie hielt mitten auf den sechs Stufen inne, die von ihrer Haustür zur Straße führten, als sie die Kutsche sah, die Devlin ihr geschickt hatte. „Miss Amanda?“, murmelte der Diener und blieb neben ihr stehen, während sie auf das Fahrzeug starrte.
Amanda hatte ein Gefährt erwartet, das in etwa so abgenutzt und alt wie ihre eigene Kutsche war. Nie hätte sie damit gerechnet, dass Devlin ihr eine so vornehme Karosse schickte, schwarz lackiert mit vergoldeten Bronzebeschlägen. Beim Öffnen des Schlags wurde automatisch das Trittbrett heruntergelassen. Jeder Millimeter des Wagens war auf Hochglanz poliert. Die Scheiben mit den geschliffenen Rändern wurden von Seidenvorhängen eingerahmt. Das Innere war mit cremefarbenem Leder gepolstert.
Die vier fast identischen, prachtvollen Braunen des Gespanns scharrten unruhig mit den Hufen und schnaubten vor Ungeduld, sodass sich in der frostigen Luft weiße Wölkchen bildeten. Eine Equipage dieser Art besaßen meist nur wohlhabende Aristokraten. Wie konnte sich ein halbirischer Verleger solchen Prunk leisten? Devlin musste noch erfolgreicher sein, als sie vermutet hatte.
Mit hoch erhobenem Kopf ging Amanda auf die Kutsche zu. Ein Lakai sprang von seinem Podest und öffnete hastig den Schlag, während Charles Amanda beim Einsteigen half. Das gut gefederte Gefährt schwankte kaum, als sie sich auf dem ledergepolsterten Sitz niederließ. Die Kniedecke, die Charles fürsorglich auf dem Arm hielt, erwies sich als überflüssig. Ein mit Pelz gefüttertes Plaid lag bereits auf dem Polster neben ihr. Die letzten Reste der winterlichen Kälte im Innern der Kutsche vertrieb ein mit glimmender Kohle gefüllter Fußwärmer. Er verbreitete eine wohlige Wärme, die Amanda bis hinauf zu den Knien stieg. Anscheinend hatte Devlin nicht vergessen, dass sie leicht fror.
Fast ein wenig benommen lehnte sich Amanda in das weiche Lederpolster zurück und blickte durch die beschlagene Fensterscheibe auf die Umrisse ihres Hauses. Der Wagenschlag schloss sich leise. Langsam fuhr die Kutsche an. „Nun, Mr. Devlin“, sagte sie laut, „wenn Sie meinen, ein Fußwärmer und eine Decke könnten mich Ihnen gegenüber milder stimmen, dann haben Sie sich leider getäuscht.“
Die Kutsche hielt Ecke Shoe Lane und Helborn vor einem vierstöckigen Gebäude. Die schicken Glastüren schwangen wegen des nicht abreißenden Besucherstroms ständig hin und her. Obgleich ihr bekannt war, dass Devlin ein erfolgreiches Unternehmen führte, war sie nicht auf derartige Ausmaße vorbereitet: Es war mehr als ein Verlag … es war ein Imperium. Und sie bezweifelte nicht, dass der findige Kopf des Besitzers ständig neue Wege und Möglichkeiten ersann, um sein Reich zu erweitern.
Der Lakai half ihr aus der Kutsche und eilte voraus, um ihr die Glastür mit einer Ehrerbietung offen zu halten, die eines königlichen Besuchers würdig gewesen wäre. Kaum hatte ihr Fuß die Türschwelle überschritten, wurde Amanda von einem blonden Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig begrüßt, dessen schlanker, sehniger Körper ihn größer erscheinen ließ, als er war. Sein Lächeln war herzlich und echt und hinter den Gläsern der Stahlbrille blitzte ein Paar meergrüner Augen auf.
„Miss Briars“, sagte er ernst und begrüßte sie mit einer Verbeugung, “es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin Oscar Fretwell. Und dies …“ Abt unverkennbarem Stolz wies er auf das geschäftige Treiben um sie herum, „… ist Devlin’s. Lager, Leihbücherei, Buchbinderei, Papierwarenhandlung, Druckerei und Verlag, alles unter einem Dach.“
Amanda nickte anerkennend und ließ sich von ihm zu einer verhältnismäßig ruhigen
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