Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
seinen Augen, empfand ebenfalls Schmerz.
Routinemäßige Verletzungen, dachte sie. Ich kann das schon verdammt gut. Immer auf Schwachstellen, um die Leute mürbe zu machen. Sie drehte sich um und lief die Treppe hinunter, halb blind, weil Tränen in ihre Augen schossen, verkrampfte den Nacken, atmete kaum, dachte: Ich weine nicht, ich weine nicht, ich weine nicht! Spürte Guerrini hinter sich, neben sich. Er darf nicht sehen, dass ich weine. Ich will es nicht! Lief weiter, über den Hof, erreichte die Arkaden, bog um das Hauptgebäude herum. Endlich konnte man sie von der Veranda nicht mehr sehen. Aber Laura lief weiter, bis Guerrinis Hand ihre Schulter griff und sie ihm zuwandte. Sie zuckte vor seinem Gesicht zurück, wie Hubertus vor ihren Worten. Erwartete einen Schlag, der sie aus ihrer plötzlichen Verwirrung aufwecken würde – doch es kam kein Schlag. Angelo hielt sie jetzt an beiden Schultern fest. Sie konnte ihn nicht deutlich sehen – diese verdammten Tränen.
«Du weinst ja!», sagte er mit erstaunter Stimme.
Das gab Laura den Rest. Tränen brachen aus ihr hervor, als öffne sich eine Schleuse und dahinter täte sich ein See auf, von dem sie nichts gewusst hatte.
Angelo zog sie fest an sich, hielt sie wie ein Kind, wiegte sie leicht, und Laura weinte, weinte, weinte. Als der Strom allmählich nachließ, füllte sich ihr Kopf mit verrückten Bildern, die sich in rasender Geschwindigkeit abwechselten. Die Fliegen um Rolf Bergers Kopf, Lucas ironisches Lächeln, Sofias fragendes Gesicht, ihr Vater, Carolins kalkweißer Fuß mit den organgefarbenen Zehennägeln.
«Du hast zu wenig geschlafen», murmelte Angelo.
Laura schüttelte den Kopf und nickte beinahe gleichzeitig.
«Viel zu wenig», stammelte sie. «Aber deshalb weine ich nicht. Ich weine über alles … einfach alles!»
«Das ist eine ganze Menge.» Er hielt sie von sich weg und betrachtete prüfend ihr Gesicht.
«Schau mich nicht an!» Laura drehte ihren Kopf weg.
Guerrini reichte ihr ein Papiertaschentuch.
«Hast du noch mehr davon?» Sie erinnerte sich daran, dass er auch Monika Raab mit Taschentüchern versorgt hatte.
«Noch vier!», antwortete er ruhig.
«Bist du immer so … so gelassen?» Laura wandte ihm den Rücken zu und schnäuzte sich.
«Nein.»
«Gott sei Dank!»
«Wieder besser?»
«Ja!» Laura machte ein paar zögernde Schritte, um herauszufinden, ob ihre Beine sie trugen.
«Danke», sagte sie dann.
«Wofür?»
«Dafür, dass du mich gehalten hast. Es ist verdammt lange her, dass mich jemand in den Arm genommen hat, wenn ich weinte.»
«Weinst du oft?»
«Nein!»
«Würdest du es als sehr indiskret betrachten, wenn ich dich nochmal frage, warum du geweint hast?»
Laura seufzte tief und spürte dem Kopfschmerz nach, der hinter ihren Augen pochte. Sie bekam immer Kopfschmerzen, wenn sie weinte.
«Ich habe geweint, weil ich Hubertus Hohenstein verletzt habe. Es war unnötig. Ich kam mir plötzlich fremd vor … so hart und routiniert …» Sie massierte ihre Schläfen, wartete auf Angelos Antwort. Als keine kam, drehte sie sich um.
Er stand da, beide Hände in den Taschen seiner Jeans, und schaute auf den Boden.
«Ja», murmelte er, «so geht es mir auch manchmal. Ich komme mir fremd und hart vor in diesem Job. Meine Frau hat mich immer öfter damit konfrontiert. Mir meine Ironie vorgeworfen, meine Treffsicherheit mit Worten. Sie hat gesagt, dass ich genauso gut auf sie schießen könnte …»
Laura starrte ihn an. «Ich kann das auch!»
«Was?» Angelo hob den Kopf und sah sie fragend an.
«Mit Worten auf andere schießen.»
Ein Lächeln glitt plötzlich über sein Gesicht.
«Dann passen wir ja ganz gut zusammen, nicht wahr!» Sein Lächeln war so offen und liebevoll, dass es auf Laura überging, obwohl ihre Augen sich schon wieder mit Tränen füllten. Sie wollte auf ihn zugehen, jetzt ihn in die Arme schließen, doch ein Ruf hielt sie zurück.
«Kommen Sie schnell! Kommissar Guerrini, Frau Gottberg! Schnell!» Britta stand an der Klostermauer und winkte heftig.
«Das gehört auch dazu!», stieß Angelo grimmig hervor. «Es gibt in unserem Beruf kaum Zeit für private Dinge. Es ist ein permanenter interruptus !»
Laura drückte ihre Tränen weg – irgendwie, irgendwohin. Sie rutschten in ihren Nacken, in die Kehle, machten ihre Brust eng. Aber sie waren weg!
«Was gibt’s?», hörte sie sich mit fast normaler Stimme rufen.
«Susanne ist überfallen worden! Kommen Sie schnell. Es ist
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