Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
haben zusammen gesungen, erinnerst du dich?»
Giuseppe kroch noch tiefer in seine Ecke.
«Du hast mir von den Stachelschweinen erzählt.»
Der Junge stieß ein Wimmern aus.
«Ich habe heute deinen Bruder gesehen. Er lässt dich grüßen.»
Keine Antwort. Wie beim ersten Besuch setzte Guerrini sich auf das schmale Bett, das seltsam unbenutzt aussah, sprach weiter, wie damals, erzählte, fragte, erwartete keine Antwort. Nach einer Weile schwieg er, ließ die Arme zwischen seinen Knien hängen und fühlte Müdigkeit in seinen Knochen, oder war es Resignation? Er schaute auf den runden Rücken des Jungen, das schmutzige Hemd, die Finger mit den schwarzen Rändern unter den Nägeln. Seit zwei Tagen hatte der Junge sich nicht mehr gewaschen, nicht mehr gegessen und wahrscheinlich auch nicht geschlafen.
Guerrini blieb einfach sitzen und schwieg, zehn Minuten, zwanzig, dreißig. Er sah nicht mehr auf die Uhr. Als der Wachmann in der Tür auftauchte, schickte er ihn mit einer schroffen Bewegung fort.
Nach einer Dreiviertelstunde hob Giuseppe den Kopf und ließ ganz langsam seine Arme sinken. Er drehte sich zu Guerrini um, starrte ihn an, sagte nichts, sang nicht, jammerte nicht, starrte nur ins Leere. Und Guerrini hielt den Atem an, denn das Gesicht zeigte blaue Flecken, ein Streifen getrockneten Bluts klebte an seinem Mundwinkel und seine Oberlippe war geschwollen.
Sie sahen sich lange an, der Commissario und Giuseppe. Guerrini fühlte Hitze und Übelkeit in sich aufsteigen, denn in den Augen des Jungen schienen sich die Qualen und Ängste aller Gepeinigten zu spiegeln. Keine Wut, nicht einmal Auflehnung, nur dunkle Traurigkeit.
«Ich hab verstanden», sagte Guerrini endlich leise. «Ich werde dich hier rausholen, Giuseppe. Und bis dahin werde ich jeden Tag wiederkommen. Das verspreche ich dir. Keiner wird dich mehr schlagen!» Er stand auf, mit bewusst langsamen Bewegungen, um Rana nicht zu erschrecken, und ging rückwärts zur Zellentür. Er hatte Angst, dass Giuseppe ihm folgen würde, ihn anflehen würde. Doch der Junge blieb hocken. Nur seine Augen folgten Guerrini aus der Zelle, begleiteten ihn durch den Gang bis zur Wachstube, und Guerrini schüttelte den Kopf, um diese Augen nicht mehr zu sehen, schloss leise die Tür hinter sich und packte den Wachhabenden an der Schulter. Der Mann drehte sich erschrocken um. Er war inzwischen nicht mehr allein, zwei Kollegen saßen an Schreibtischen in dem viel zu engen Raum. Guerrini war es egal.
«Wer hat das gemacht?», brüllte er.
«Was gemacht?» Der Mann wich ein wenig zurück, doch Guerrini hielt ihn fest.
«Wer hat Rana geschlagen?»
«Niemand, Commissario!» Der Mann drehte seinen Kopf zu den Kollegen. «Oder wisst ihr was?»
Die beiden zuckten die Achseln.
«Wahrscheinlich hat er sich selbst den Schädel angehauen», sagte der eine undeutlich. «Verrückt, wie der ist!»
«Er hat sich nicht selbst den Schädel angehauen!» Guerrini brüllte weiter. «Er ist geschlagen worden! Ich kann sehr genau unterscheiden, ob jemand sich selbst verletzt oder misshandelt wird!» Er versetzte dem Wachhabenden einen Stoß und ließ ihn gleichzeitig los. Der Mann taumelte gegen die Wand. Guerrini fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht.
«Wenn Rana noch ein Haar gekrümmt wird, solange er hier in Untersuchungshaft sitzt, dann Gnade euch Gott! Ich werd euch wegen Körperverletzung vor Gericht bringen, und wenn ich bis zum Obersten Gerichtshof in Rom gehen muss! Ich werde dafür sorgen, dass ihr vom Dienst suspendiert werdet. Gibt es euch ein gutes Gefühl, wenn ihr einen geistig Behinderten schlagt? Fühlt ihr euch dann mächtig? Richtig gut? Ihr kotzt mich an!» Guerrinis Beine bewegten sich plötzlich von allein, ließen ihn im Raum auf und ab gehen. Einer der Wachmänner wollte etwas sagen, doch der Commissario schnitt ihm mit einer heftigen Handbewegung das Wort ab.
«Ich gebe euch jetzt klare Anweisungen! Hört genau zu! Ihr werdet das Essen für Rana neben der Tür abstellen und die Zelle nicht betreten. Ihr werdet ihn zu nichts zwingen! Zu gar nichts! Ist das klar? Weder dazu, sich zu waschen, noch zu essen oder etwas zu sagen oder sonst was! Ihr lasst ihn einfach in Ruhe!» Guerrini sah auf seine Armbanduhr. «In zwei Stunden komme ich wieder und sehe nach!»
Er verließ den Raum und knallte noch einmal die Tür hinter sich zu, blieb kurz stehen, um Luft zu holen, und machte sich auf den Weg zum Untersuchungsrichter. Sein Herz schlug zu schnell.
A ls die
Weitere Kostenlose Bücher