Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
sofort an diesen Bauernjungen denken, der gestern aus dem Gefängnis frei kam. Vielleicht … aber es wäre ja Wahnsinn …»
«Warten Sie!» Laura übersetzte schnell, was Katharina erzählt hatte. Über Angelos Gesicht lief ein Schatten, und Laura konnte seine Gedanken beinahe hören, denn es waren auch ihre eigenen: Nicht Rana, nicht Giuseppe Rana!
«Dann werde ich jetzt wohl die Carabinieri in Montalcino anrufen», sagte Guerrini langsam, wie um der Bedeutung des Entschlusses Gewicht zu geben. «Wir müssen die Gegend absuchen. Ich werde gleich zu den Ranas fahren und sehen, was da los ist. Du kümmerst dich um die Leute hier, Laura!»
Sie nickte. Versteck ihn, bring ihn weg, wollte sie sagen, sonst werden sie ihn wieder einsperren. Aber als sich ihre Blicke kreuzten, wusste sie, dass es nicht nötig war. So wandte sie sich Katharina zu.
«Ist gestern Abend etwas Besonderes vorgefallen? Etwas, das Berger zur Flucht veranlasst haben könnte oder zum Selbstmord? Als wir letzte Nacht zurückkamen, fanden wir Rosa Perl völlig aufgelöst vor. Sie war in Panik, weil eine Fledermaus im Gruppenraum herumflog. Und dann erzählte sie von einer schlimmen Gruppensitzung …»
Katharina setzte sich auf das ungemachte Bett, fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, als wollte sie sichergehen, dass es noch da war.
«Ich habe ihnen den Spiegel vorgehalten. Jedem Einzelnen. Ihre Gefühllosigkeit, ihren Egoismus, ihre Lebensgier. Wahrscheinlich war ich ungerecht … aber ich glaube, dass es notwendig war.»
«Haben Sie Rosa nicht schreien hören?»
«Nein. Ich habe mit Ohropax geschlafen.»
«Niemand hat sie gehört», sagte Laura nachdenklich. «Man kann ziemlich einsam sein, wenn alle ihre Ohren verstopfen.»
Katharina verzog das Gesicht, als litte sie Schmerzen.
«Vielleicht war es ein Fehler. Aber diese Traktoren … Sie wissen es selbst.»
«Ja, natürlich», erwiderte Laura. «Würden Sie jetzt bitte zu den anderen gehen. Ich werde mich anziehen. In ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.»
Katharina nickte, ging zur Tür. Eine alte Frau, schwerfällig und müde. Als sie die Tür hinter sich schloss, griff Angelo nach seinem Handy und rief seine Kollegen an. Laura verzichtete auf die Dusche, zog sich schnell an und versuchte ihre Frisur zu bändigen, doch die Bürste blieb immer wieder in ihren Haaren stecken.
«Gut!», sagte Angelo. «Die Truppe ist im Anmarsch. Wir werden die ganze Gegend durchkämmen. Es kommen auch Carabinieri aus Buonconvento und sämtliche Hunde, die sie auftreiben können. Falls sie auftauchen, ehe ich zurück bin – schick sie los! Ich übergebe dir das Kommando. Es wird ihnen nicht passen, aber das kann dir egal sein. Maresciallo Pucci ist ein bisschen heikel. Aber du wirst schon mit ihm fertig werden.»
Er wandte sich zur Tür, kehrte zu ihr zurück.
«Laura, ich …»
«Ssscht!», machte sie und legte einen Finger auf seine Lippen. «Sag nichts … das hab ich von dir gelernt!»
Er lachte auf, umarmte sie und ging.
Ich muss mit ihm reden, dachte Laura. Wir müssen jeden Einzelnen der Gruppe genau durchgehen. Diesen harmlosen Priester zum Beispiel. Könnte er sich als Rächer der Tugend aufspielen? Als einer, der Unzucht verfolgt, weil er selbst nie welche treiben durfte? Alles schien ihr möglich zu sein. Oder war Katharina Sternheim durchgeknallt? Brachte sie die Mitglieder ihrer Gruppe um, weil sie es nicht mehr aushielt? Seltsam, dass ich absolut nichts mit Susanne Fischer verbinde … was macht diese Frau eigentlich hier? Noch ein unbeachteter Moskito … Die anderen? Britta Wieland und Monika Raab? Unklar, aber eher harmlos. Wirklich? Gab es harmlose Menschen? Oder steckte hinter all dem der große Unbekannte? War ihnen jemand nachgereist? Jemand, der eine Frau in die Isar gestoßen hatte? Hatte sie etwas übersehen? Oder war Giuseppe doch verrückter, als sie dachten? Nicht Giuseppe – bitte nicht Giuseppe.
Laura befestigte das kleine Telefon an ihrem Gürtel, eilte hinter Katharina Sternheim her und holte sie im Hof ein.
«Was ist zwischen Ihnen und Berger vorgefallen?», fragte Laura.
Katharina blieb stehen, sah zu den anderen hinüber, die auf der Veranda warteten.
«Ich habe ihm gesagt, dass er krank ist.» Ihre Stimme klang jetzt wieder tief und heiser. «Dass ich mich nicht mehr zuständig fühle, weil ich keine Psychiaterin bin. Ich habe gesagt, dass seine Gier nach Frauen und sein Verhalten in der Gruppe pathologisch ist. Ich habe ihn von der Gruppe
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