Nachtflügel
Grasland zurückzogen und sie aufspürten. Blätter und Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Lautlos schickte er Klangwellen aus, um die Umgebung zu erkunden. Er behielt auch den Boden im Auge und schnüffelte nach Löchern, die noch mehr rotzahnige Soriciden ausspucken könnten.
»Dämmer, wohin gehen wir?«, fragte Sylph nach ein paar Minuten.
Er hielt nicht an. »Zum Giftholzbaum.«
Sylph sah geschockt aus. »Und was ist mit den anderen? Wir können doch nicht einfach wegrennen!«
»Wir rennen nicht einfach weg!«, sagte er aufgebracht. »Willst du etwa gefressen werden?«
»Aber wie können wir wieder zusammenfinden?«, wollte Sylph wissen.
»Alle sind jetzt überall verstreut. Bei dem Baum treffen wir dann zusammen.«
»Und wenn sie den Weg nicht finden?«
Er blieb stehen und atmete schwer. »Südwind kennt ihn, er wird ihnen helfen.«
Aber da fiel ihm ein, wie schnell die Kolonie ohne Unterstützung aus der Luft vom Kurs abgekommen war. Er versuchte, wie ein Anführer zu überlegen. Was würde man jetzt am besten machen? Seine Gedanken wirbelten durcheinander. In wie viele Gruppen hatte sich die Kolonie aufgesplittert? Würden sie es wagen, sich gegenseitig zu rufen?
»Wir müssen sie finden, Dämmer«, sagte Sylph. »Sie brauchen dich.«
Zitternd holte Dämmer tief Luft. Er wünschte, sein Vater wäre jetzt hier und würde ihm sagen, was er zu tun hätte.
»Ich schau mich mal um«, sagte er. »Bleib du hier.«
Er hob ab und schraubte sich hoch in die Luft, um sich zu orientieren. Da war der umgestürzte Baum und streckte seine toten Glieder zum Himmel. Und weiter nach Osten stand der einsame Giftholzbaum – das nächste Ziel der Kolonie. Er tauchte so tief ab, wie er sich traute, und fing an zu kreisen, teilte das Gras mit Echosicht und suchte nach den anderen Chiroptern. Er hoffte, sie bereits auf dem Weg zum Giftholzbaum zu finden. Der Dunst wurde allmählich zu Nebel, und Dämmer drohte schon zu verzweifeln, als das Echo ihm ein Bild von einem einzelnen Chiropter im Gras zurückbrachte. Schnell flog er dichter heran und sah, dass es mehrere waren, die zusammen vorwärtsstrebten. Er flüsterte ihnen einen Gruß zu und landete unbeholfen zwischen den hohen Halmen.
»Dämmer!«
Südwind eilte auf ihn zu und rieb kurz seine Nase an ihm – in den letzten paar Tagen war so wenig Zeit für Zärtlichkeiten geblieben – und Dämmer fühlte sich danach viel kräftiger. Südwind roch wie sein Vater und Dämmer musste ein Schluchzen unterdrücken.
»Ich habe gesehen, wie du gebissen worden bist, und ich dachte, wir hätten dich verloren«, sagte Südwind.
»Das Hyaenodon hat mich gerettet. Sylph und ich waren die Letzten, die rausgekommen sind. Ist das hier der ganze Rest?«
Südwind nickte. »Wir haben sieben verloren. Einer meiner Söhne war unter ihnen.«
Dämmer musste an die entsetzlichen Hügel voller Soriciden im Innern des Baums denken. »Das tut mir leid, Südwind.«
»Aber danach haben es die Übrigen von uns geschafft, irgendwie wieder zusammenzufinden«, sagte Südwind. »Da war viel Glück dabei.«
»Ihr seid vom Kurs auf den Giftholzbaum abgekommen«, informierte ihn Dämmer und schob seinen älteren Bruder in die richtige Richtung. »Es ist nicht mehr so weit. Ich fliege zurück und hole Sylph. Wir treffen euch am Baum.«
»Wir warten da auf euch«, sagte Südwind. »Seid bitte vorsichtig.«
Als Dämmer sich wieder in der Luft befand, sah er erschrocken, wie sehr sich der Nebel verdichtet hatte. Die fernen Berge waren völlig verschwunden und auch das Grasland löste sich allmählich auf. Einige seiner Orientierungspunkte waren nicht länger sichtbar. Er kreiste und versuchte, sich so zurechtzufinden. Die Dunkelheit zog sich um ihn zusammen.
Dämmer flog weiter und beobachtete, wie der Nebel zwischen die Grashalme sickerte. Er war sich eigentlich ziemlich sicher, dass er schon recht nahe war. Er wollte es eigentlich nicht, aber er hatte keine andere Wahl: Er musste rufen.
»Sylph! Sylph!«
Ihr Antwortruf zog ihn scharf nach links, und er schoss wieder Klang ab, um sie zu finden. Noch nie war das Echo so schnell zurückgeworfen worden und beinahe hätte es sein inneres Auge geblendet. Alles, was er wahrnehmen konnte, war eine pulsierende Schranke von silbrigem Licht.
»Dämmer! Ich bin hier unten!«
Er zwang sich, tief durchzuatmen, und änderte diesmal Stärke und Geschwindigkeit seiner Klangrufe. Das Echo kam diesmal mit einem verschwommenen Bild von Gras und anderen
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