Nachtflug Zur Hölle
Hafenstadt Libau. Die Kais und Lagerhäuser entlang der Küste waren so hell beleuchtet, daß der Blick durch die Nachtsichtgeräte die beiden Piloten zu blenden drohte. Trotzdem gelang es ihnen, bis auf knapp 15 Kilometer an den Strand heranzukommen, bevor sie auf Boote stießen, die sie nicht mehr sicher umfliegen konnten.
»Okay, wir sind so dicht wie möglich dran, glaub’ ich«, erklärte Fell dem Copiloten. »Die Hundesöhne dort vorn kann ich nicht mehr umfliegen. Sichten sie uns, ist das ganze Unternehmen im Eimer.
Das Team soll sich bereit halten, und du machst die Frachtluke auf.«
Watanabe alarmierte die Marines. Der Lichtschein von Libau war jetzt so grell, daß er sich auf der Windschutzscheibe der CV-22 PAVE HAMMER widerspiegelte.
»Gott, mir kommt’s vor, als müßte uns jeder hier sehen«, murmelte Fell. »Noch mal die Schalter kontrollieren, Martin. Ein Piepser über Funk oder aus dem vorderen Radar, und wir haben sämtliche Stationen bis ins gottverdammte St. Petersburg alarmiert.«
Watanabe überzeugte sich davon, daß alle Funkgeräte auf STANDBY oder EMPFANG standen, daß der APQ-174 nicht im TFR-Modus arbeitete und daß das ILS sowie alle äußeren Lichter ausgeschaltet waren.
Der IR-Scanner AAR-50 zeigte an, daß die Ostsee in mindestens acht Seemeilen Umkreis – weiter reichte das FLIR nicht – frei von Booten war. »Heckluke auf!« Während sein Copilot den Schalter für die Heckrampe betätigte, legte Fell einen Kippschalter am Steuerknüppel um. Nun drehten sich die Triebwerksgondeln an den Flügelspitzen nach oben und verwandelten die CV-22 dabei von einer 400 Stundenkilometer schnellen Turbopropmaschine in einen nur mehr 50 Stundenkilometer langsamen Hubschrauber.
Hinten im Laderaum wurde die Heckrampe gesenkt, so daß ein Schwall eisiger Meeresluft über das wartende MSPF-Team hereinbrach. An der sich öffnenden Luke stand das Team mit seinem Schlauchboot bereit: einem gut sechs Meter langen Combat Rubber Raiding Craft (CRRC) – auch »Rubber Raider« genannt – mit 75-PS-Außenbordmotor und Zusatztanks. Die Marines trugen »Mustang-Anzüge«, schwarze Nylonanzüge, die vor Kälte schützten, Auftrieb lieferten, Wasser abhielten und weit mehr Bewegungsfreiheit gewährten als Naßtaucheranzüge. Waffen, Funkgeräte und weitere Ausrüstungsgegenstände hatten sie in wasserdichten schwarzen Rucksäcken bei sich.
Auf ein Zeichen hin packten die Männer des MSPF-Teams das Schlauchboot an der umlaufenden Halteleine, liefen damit von der Heckrampe ins Leere und klatschten in die eiskalte Ostsee. Das Gewicht der acht Marines an der Leine verhinderte, daß ihr CRRC kenterte, während sie an Bord kletterten und es im immensen Rotorenstrahl der CV-22 stabilisierten. Sekunden später sprang der Außenborder an, die Männer luden ihre Pistolen Kaliber .45 und die Maschinenpistolen MP5 durch, und Lobato gab ihrem Rudergänger mit Hilfe seines Kompasses den Steuerkurs an. Das CRRC röhrte in Richtung Küste davon.
An Bord der CV-22 meldete Sergeant Brown, die Marines seien wohlbehalten abgesetzt. Fell ging auf Gegenkurs, flog von der Küste weg, blieb stetig unter 50 Fuß und wich allen Booten aus, die sein FLIR-Sensor ihm anzeigte. Gleichzeitig sendete Watanabe auf der taktischen Frequenz ein einziges Wort: »Teviske« – auf litauisch »Vaterland« –, um Oberst White zu melden, daß die Marines zur Küste unterwegs waren.
Marines, vor allem Aufklärungs- oder Special-Operations-Teams, kämpfen niemals allein. Unabhängig von der Größe des jeweiligen Teams wurden Infanterieeinheiten des Marine Corps stets aus der Luft unterstützt. Die aus einem einzigen Wort bestehende Startmeldung bewirkte, daß die übrigen Beteiligten aktiv wurden.
Während die CV-22 zur Valley Mistress zurückflog, um dort zu tanken und ein zweiköpfiges Unterstützungsteam an Bord zu nehmen, startete südlich von Oslo auf dem NATO-Flugplatz Sandefjord, den die Marines zu ihrer Einsatzzentrale für Nordeuropa erklärt hatten, ein Tankflugzeug KC-130 des U.S. Marine Corps. Begleitet wurde die KC-130 von einem riesigen Transporthubschrauber CH-53E Super Stallion mit dem verstärkten Schützenzug SPARROWHAWK an Bord, der »Gunny« Lobatos Team notfalls unterstützen sollte. Zugleich informierte Watanabes Kurzmeldung Angehörige der 26. Marine Expeditionary Force in Deutschland und Dänemark darüber, daß das Unternehmen angelaufen war und jetzt von Aufklärungs- und Planungsteams verfolgt werden mußte, die
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