Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
vor sechzehn oder siebzehn Jahren aus der Stadt verschwunden war, jedenfalls bevor Ishmael selbst hierhergefunden hatte.
»Wie gut«, fragte Ishmael und wählte seine Worte vorsichtig, »kennen Sie sie?«
»Nicht näher «, erwiderte Telmaine, als handele es sich um etwas Unanständiges. »Nur durch gesellschaftliche Kontakte. Ihre neureiche Familie ist extrem bemüht, Anerkennung zu finden.«
»Meine Dame«, hakte er bedächtig nach, »Sie haben gehört, was Mistress Floria und ich von dieser Geschichte halten, aber Sie selbst haben uns noch nicht an Ihren Gedanken teilhaben lassen. Welche Verbindung besteht zwischen dieser Dame und Ihrem Mann, die ihn in diese Geschichte hineingezogen haben könnte?«
»Es ist nichts zwischen ihnen«, sagte sie knapp und in einem Ton, der erkennen ließ, dass sie dem nichts hinzuzufügen hatte.
»Verehrte Telmaine, man braucht kein Gedankenleser zu sein, um Sie als Lügnerin zu entlarven«, sagte er. Ihr verschlug es die Sprache, und er schenkte ihr ein schiefes Lächeln, als wolle er sagen, wie vollkommen irrelevant gesellschaftliche Gepflogenheiten jetzt zwischen ihnen waren – Geflogenheiten, die niemals zugelassen hätten, einer Dame mitzuteilen, dass sie eine Lügnerin sei. »Verehrte Telmaine«, sagte er weich, »vielleicht wollten Sie es zuvor nicht wahrhaben, weil Sie dieses Wissen oder die Art und Weise, wie Sie daran gelangt sind, verletzt hat, aber Ihr Mann wurde letzte Nacht fast umgebracht und Ihre Tochter entführt.«
»Rohling«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Ich kann Ihnen nichts sagen.«
»Wen wollen Sie schützen außer dem Mann, der dort in den Schatten des Todes liegt, und dem kleinen Mädchen, das sich dort draußen allein in der Gewalt seiner Entführer befindet?«
»Rohling!«, sagte sie etwas lauter, presste sich die Finger vor die Lippen und bebte vor ersticktem Schluchzen.
Voll unverhohlenem Ingrimm lehnte er sich zurück. Er hatte ihr den wirkungsvollsten Schlag versetzt, den er kannte, und sie auf grausame Weise verletzt, aber sie wollte es ihm immer noch nicht sagen. Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück, ohne Worte, ohne Sondierung.
Telmaine
Als sie vor dem pompösen Haus ausstiegen, das Lysander Hearne seiner Geliebten vermacht hatte, fühlte sie sich nur noch krank – wegen des ständigen Rüttelns der Kutsche, ihrer Erschöpfung und der Art und Weise, wie der Baron ihrem Gewissen zugesetzt hatte. Der schwere moschussüße Duft der in Blüte stehenden Nachtrosen gab ihr den Rest; kalter Schweiß brach ihr aus, und sie musste die Hand vor den Mund pressen, um den Aufruhr ihres Magens zu unterdrücken. Falls Ishmael sie sondiert hatte, war sie sich dessen nicht bewusst geworden. Jetzt spürte sie plötzlich seine behandschuhten Hände auf ihren Handgelenken. Er zog ihr die Hände vom Mund, und sie fühlte, wie er ihr eine flache Trinkflasche gegen die Lippen presste.
»Trinken Sie«, sagte er.
Sie holte Luft, um zu widersprechen, besann sich jedoch eines Besseren, als sie roch, dass es sich um nichts Alkoholisches, sondern irgendein Pflanzenextrakt handelte. Sie nahm einen Schluck. »Ein altes Mittel von den Südinseln gegen Seekrankheit«, sagte er. »Ich musste von Stranhorne aus den Küstendampfer nehmen. Es ist zwar bloß Gerede, dass ein Magier kein Wasser überqueren kann, aber ich bleibe trotzdem ein Mann der Grenze und bin alles andere als ein Seemann.«
Der Trank schmneckte minzig und herb und half ihr. Sie nickte anerkennend, sorgfältig bemüht, ihren Schrecken beim bloßen Gedanken an eine Seereise zu verbergen. Zweifellos würde der Baron sich ebenso wie ihr Mann endlos über die detaillierten Karten, die ausgeklügelten Navigationsgeräte und das ausgedehnte System von Signalglocken an Küsten und auf Klippen auslassen, das den Nachtgeborenen trotz der begrenzten Reichweite ihres Sonars die Seefahrt ermöglichte. Wie dem auch sei, sie hatte selbst nie einen Fuß auf ein Boot gesetzt und würde es auch nicht tun.
Er ließ sie vor sich die Stufen hinaufgehen und wartete schräg hinter ihr, ob jemand auf ihr Klingeln hin in Erscheinung treten würde. Ein Diener öffnete die Tür.
»Zu Tercelle Amberley, bitte.«
»Ihre Hoheit empfängt nicht …«
»Sagen Sie ihr, Telmaine Hearne verlange sie wegen eines Gefallens zu sprechen, den ihr Mann, Balthasar, Ihrer Hoheit getan habe.«
Vor ihrer Nase wurde die Tür wieder geschlossen. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass Ishmael den Bereich hinter ihnen
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