Nachtgieger
dem Wasserrad beschäftigen: Warum wurde die Leiche ausgerechnet dort abgelegt? Wer weiß etwas über Wasserräder, wer restauriert und wartet sie? Ist die Gemeinde dafür zuständig, gibt es einen Verein? Und natürlich die Schlüsselfrage – welches Motiv steckt hinter diesem Verbrechen?“
„Und wo verbrachte Kati Simmerlein ihre Wochenenden?“, ergänzte Mandy. Zum ersten Mal hatte sie plötzlich das Gefühl, als würde sich bei dem Stichwort „Wasserrad“ etwas in ihrem Unterbewusstsein regen.
Margit saß mit Walter Burkhard im Bauwagen von Helene, der ehemaligen „Dorfhexe“, an einem grob gezimmerten, hellen Tisch, über dem ein goldener Kronleuchter baumelte. Die tannengrün gestrichene Behausung befand sich geschützt am Waldrand oberhalb der kleinen Ortschaft, in der Kati Simmerlein aufgewachsen war. Der Raum war behaglich und zugleich eigenwillig nach dem Stil der Hexe eingerichtet.
Die pragmatische Margit hatte auf Helenes Holzofen Wasser aus einem Kanister erhitzt, eine bauchige Kanne mit abgebrochenen Henkel und Filter aus einem der Küchenschränken genommen und frischen Kaffee aufgebrüht.
Helene, eine überaus kundige Heilkräutersammlerin, war tot. Margit und Walter waren mit ihr befreundet gewesen und hatten es sich zum Ziel gesetzt, ihr Vermächtnis in Ehren zu halten – sie wussten nur noch nicht wie. Deshalb trafen sie sich neuerdings öfter und berieten sich.
Helene von Falkenstein, wie die Kräutersammlerin eigentlich hieß, hatte sich vor langer Zeit in den Bauwagen zurückgezogen, den ihr die Gemeinde freundlicherweise überlassen hatte, um ein alternatives Leben als Aussteigerin zu führen. Sie hatte vom Verkauf gesammelter Heilkräuter und selbst hergestellter Tinkturen gelebt, von der diskreten Beratung der einheimischen Bevölkerung bei scheinbar unlösbaren Problemen und von kundigen Kräuterführungen für Touristen. Bei ihrem aktuellsten und bedauerlicherweise auch letzten Projekt waren nächtliche Exkursionen an sagenumwobene Stätten in der Fränkischen Schweiz angeboten worden.
Bei einer solchen Wanderung hatte Margit, die damals unter heftigem Liebeskummer litt, Helene kennengelernt. Margit, eine siebenundfünzigjährige vermögende Witwe aus Nürnberg-Gostenhof, hatte den Bürgermeister der kleinen Ortschaft überredet, ihr den verwaisten Bauwagen zu überlassen. Dass dabei eine nicht unerhebliche Spende zur Restaurierung der wertvollen Kirchenorgel ein gewisse Rolle gespielt hatte, wussten nur der geschäftstüchtige Bürgermeister, die Pfarrerin Regina Engeltal und selbstverständlich Margit selbst.
Diese hatte eine drängende Sehnsucht verspürt, sich ab und zu aus der Großstadt in die unberührte Natur zurückzuziehen und dem Geist von Helene nahe zu sein. Hier las sie viel – die Aussteigerin Helene hatte eine feine, kleine Bibliothek hinterlassen –, wanderte durch die hügelige, von Feldern und Obstwiesen durchzogene, friedliche Landschaft und hatte ihren Liebeskummer und ihre Lebensunzufriedenheit weit hinter sich gelassen.
Außerdem hatte sie die Bekanntschaft von Walter Burkhard und dessen Rauhaardackel Ferdinand gemacht. Walter war ein sympathischer Rentner und leidenschaftlicher Jäger, der in dem kleinen Ort ein Haus besaß, wo er mit seinem Hund lebte.
Als er vor einigen Wochen beschlossen hatte, der neuen Besitzerin des Bauwagens einen Besuch abzustatten und sich vorzustellen, war er von Margit herzlich empfangen und zu einer Tasse Kaffee eingeladen worden. Über sein großzügiges Angebot, ihr, wie vorher der Hexe Helene, trockenes, gehacktes Brennholz zu liefern und hinter dem Bauwagen aufzustapeln, freute sich die Nürnbergerin riesig.
Margit schenkte Walter eine weitere Tasse Kaffee ein und blickte auf den Schrank mit den zahlreichen, winzigen Schubladen, in denen die Dorfhexe getrocknete Kräuter in Säckchen aufbewahrt hatte. „Ich habe von Kräutern überhaupt keine Ahnung, Walter. Durch die Fortführung ihrer beliebten Kräuterexkursionen können wir dem Andenken Helenes nicht gerecht werden.“
Walter nickte zustimmend: „Und wenn wir Wanderungen anbieten, wir beide als Wanderführer? Ich kenne mich durch die Jagd sehr gut in dieser Gegend aus.“
Margit runzelte zweifelnd die Stirn: „Ich habe den Eindruck, dass die wandernden Touristen in der Gegend sehr gut alleine zurechtkommen. Aber lass es gut sein, Walter, wir haben schon noch eine zündende Idee. Wollen wir unseren Kaffee draußen auf der Treppe trinken? Es ist so ein
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