Nachtgieger
traf sich an diesem sonnigen Morgen nicht wie üblich am verwitterten Marterl oberhalb des Schlangenbaches, sondern auf Anweisung von Mathilde, ihrer erbarmungslosen Trainerin, auf dem Vorplatz der Dreifaltigkeitskapelle, die nahe der Landstraße zwischen Oberehrenbach und Kasberg erbaut war.
Die Kapelle bestand aus groben, graubraunen Feldsteinen und einem spitzen Dach, auf dem vorne ein eisernes Kreuz angebracht war. Die dunkelgrüne Tür führte in einen schmalen Raum, in dem ein liebevoll geschmückter Altar aufgebaut war, vor dem eine Gebetsbank ihren Platz hatte. Alte, knorrige Eichen umsäumten den Vorhof, auf dem links vor dem Kirchlein ein rechteckiger, stabiler Holztisch mit zwei Bänken zum Verweilen und Brotzeitmachen einlud.
Die sportlichen Damen hatten ihre Walking-Stöcke lässig an die umstehenden Bäume gelehnt und auf den Bänken Platz genommen. Sie lauschten ihrer Trainerin, die ihren Plan lebhaft erläuterte. Anneliese Schüpferling nahm einen Schluck von ihrem grell orangefarbenen Isodrink, Geschmacksrichtung Maracuja. Sie trug zu ihrer engen Sportkleidung ein neues, neongrünes Stirnband, das sie sich hinter dem Rücken ihres Gatten Konrad geleistet hatte. Mit ihrem Outfit war sie nun absolut zufrieden.
„Also, passt auf“, erklärte Mathilde, „wir werden ab heute einmal in der Woche eine neue Route gehen. Sie ist länger und ein wenig hügeliger als unsere bisherige Strecke entlang des Schlangenbaches. Wir müssen unser Trainingsprogramm steigern, damit wir uns weiterentwickeln. Stillstand bedeutet Rückschritt.“
„Das habe ich jetzt nicht verstanden“, meldete sich Paulina.
Mathilde winkte ungeduldig ab und dozierte weiter: „Der Weg nach Haidhof und zurück beträgt schätzungsweise fünf bis sechs Kilometer. Eine Kleinigkeit für uns.“
Die wohlbeleibte Manuela Henneberger stöhnte: „So weit, ich frage mich, wie viele Qualen ich noch auf mich nehmen soll, um fit für meinen Klausi zu sein.“
Gunda Mirsberger legte tröstend den Arm um Manuelas Schultern: „Wir schaffen das mit links, wir sind schließlich topfitte Mädels.“
Paulina Regenfuß meldete sich erneut zu Wort: „Außerdem hat Regina erzählt, dass ein gewisser Notker der Rammler das Gehen als Heilmittel gegen die Einflüsterungen des Teufels pries.“
„Der bedeutsame Gelehrte und Dichter aus der karolingischen Zeit, den Regina zitiert hat, hieß Notker der Stammler, weil er einen Sprachfehler hatte“, korrigierte Luise Walz ihre sportliche Mitstreiterin.
Paulina zuckte unbekümmert mit den Schultern.
Nachdem bei Regina gestern Abend im Goldenen Hirsch heftige Wehen eingesetzt hatten, war sie von ihrem höchst besorgten und aufgeregten Ehemann Theo nach Forchheim ins Krankenhaus gefahren worden. Dort hatte man sie dann zur Beobachtung behalten. Da die Geburt offenbar noch auf sich warten ließ, hatte die Pfarrerin zunächst energisch protestiert, dann aber doch nachgegeben. Weil sie zu ihrem Abendessen in der Dorfgaststätte nicht mehr gekommen war, bekam sie in der Klinik aufgewärmte, bleiche Königsberger Klopse, die keineswegs dazu beitrugen, ihre Stimmung zu heben. Dreimal noch hatte Regina am gestrigen Abend heimlich vom Krankenzimmer aus mit ihrem Handy zu Hause angerufen und ihrem Gatten, der schon jetzt mit der Betreuung seiner drei liebreizenden Kinder völlig überfordert war, ihre dringenden Wünsche mitgeteilt: Sie benötigte bestimmte Zeitschriften, Bücher und vor allem ihre Bibel. Außerdem ein großes Glas Salzgurken und drei Tafeln Vollmilchnussschokolade.
Die Sportlerinnengruppe absolvierte soeben unter den wachsamen Augen ihrer Trainerin sorgfältig Dehnübungen auf dem schmalen Feldweg, der nach Haidhof führte, als sie einen bulligen, karmesinroten Traktor wahrnahmen, der mit Höchstgeschwindigkeit auf sie zuraste. Im letzten Moment sprangen die Damen laut schimpfend in den flachen Graben, der den Weg säumte. Verblüfft sahen sie dem Fahrzeug hinterher, das in einer aufgewirbelten Sandwolke verschwand.
„Das war der alte Hans, der Vater von Erich“, erklärte Manuela ihren Freundinnen. „Er traut sich nicht mehr, seinen Wagen zu benutzen, und fährt mit seinem neuen John Deere, den er extra hat umspritzen lassen, nach Forchheim in den Supermarkt zum Einkaufen. Dort stellt er sich quer auf vier Parkplätze. Jetzt ist er auf dem Weg nach Hohenschwärz, um seine Schnapsvorräte aufzufüllen, das weiß ich von Erich. In seiner Scheune stehen auf hoch angebrachten
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