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Nachthaus

Nachthaus

Titel: Nachthaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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Mutter, um sich bei ihr Trost zu holen. Nachdem sie die Wendeltreppe des mit Schindeln verkleideten Turms an der nordwestlichen Hausecke hinaufgestiegen war, fand sie Wendeline draußen im Regen auf der Aussichtsplattform, dem höchsten Punkt des Gebäudes. Von dort aus blickte sie zu den schweren Gewitterwolken auf, die sich im letzten Tageslicht zusammengeballt hatten. Ihre Mutter trug ein blaues Kleid, das Daddy besonders gern gemocht hatte, und sie stand barfuß auf der nassen Plattform und hielt einen Schirm in der Hand, der ihr nur wenig Schutz gegen den windgepeitschten Regen bot.
    Die neunjährige Sparkle flehte sie an, wieder ins Haus zu kommen. Wendeline allerdings schien ihre Tochter nicht wahrzunehmen und restlos in die grimmigen Blitze weit draußen über dem Meer vertieft zu sein, die den sich verdüsternden Himmel mit einer groben Naht an das noch dunklere Wasser hefteten, sowie in nähere Blitze, die auf die Küste von Maine trafen und die schäumenden Wogen vorübergehend anzuzün den schienen. Sie erweckte den Eindruck, in einem erwartungs vollen Trancezustand gefangen zu sein, und auf ihrem Gesicht stand ein schwaches Lächeln, fast als rechne sie damit, dass ihr Mann wie ein hinabsteigender Engel aus dem Gewitter zu ihr zurückkehren würde.
    Einen Moment, nachdem Sparkle bemerkt hatte, dass ihre Mutter den Schirm nicht etwa an seinem Holzgriff hielt, sondern an dem Metallstab über dem Griff, wurde auch schon ein Blitz von der Stahlhülse angezogen, folgte dem Stab, fand die Hand und durchbohrte die Frau. Der Schirm ging in Flammen auf, als er aus ihrer Hand flog und in den Regen fortwirbelte. Sie selbst wirbelte ebenfalls durch die Luft, von einer Million Volt nicht etwa gefällt, sondern hochgehoben, hochgehoben und mit schlenkernden Gliedmaßen in einem kurzen Tanz gedreht wie die herumtollende Vogelscheuche in Der Zauberer von Oz . Ihre Arme wurden hochgerissen, als griffe sie in ihrer Ekstase nach einer weiteren fliegenden Flamme. Von dem Gewitter angetrieben, das für einen Moment in sie eingedrungen war, prallte Wendeline gegen das Geländer und wurde darüber hinweggetragen, in den Regen und die Abenddämmerung hinaus, und sie war schon tot, bevor ihr Sturz begann, ein Sturz, der in einer Stechpalmenhecke endete, die sie sowohl umfing als auch durchbohrte und sie mit dem Gesicht nach oben dem gewalttätigen Himmel entgegenstreckte.
    Die kleine Sparkle stand in ihren Schuhen mit den Gummisohlen auf dem nassen Boden der Aussichtsplattform, starr vor Schreck, nunmehr verwaist und traumatisiert, und verstand sofort, dass diese Welt ein finsterer und brutaler Ort war, dass das Leben für diejenigen am besten war, die sich weigerten, daran zu zerbrechen, und dass zum Glücklichsein die Kraft und der Mut erforderlich waren, sich von nichts und niemandem einschüchtern zu lassen. Sie weinte, aber sie schluchzte nicht. Sie stand so lange da, bis keine Tränen mehr kamen und der Regen das Salz von ihrem Gesicht wusch.
    In den vergangenen dreiundzwanzig Jahren war sie vor nichts anderem als Blitzen zurückgeschreckt, weder vor irgendwelchen Menschen, die ihren Pfad kreuzten, noch vor der Furcht, an irgendeiner Aufgabe zu scheitern. Sie schreckte nicht vor den Gefahren und Risiken zurück, die anderen Menschen Sorgen bereiteten. Nur das flinke Schwert eines Gewitters konnte sie zum Rückzug bewegen, und während sie jetzt den Espresso zubereitete, ahnte sie, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie auch diese Phobie überwinden musste, wenn sie die unerhörte Gefahr überleben wollte, die diese kriechende sechsbeinige Schreckensvision darstellte.
    Obwohl der Donner ausblieb, flackerten die Lichter in der Küche wieder, und Sparkle wurde klar, dass es über ihre Kräfte ginge, bei einem Stromausfall auch nur für einen Moment von tiefer Schwärze umfangen zu sein, wenn es sein konnte, dass sie sich das Dunkel mit etwas wie diesem widernatürlichen Kriechtier teilen musste. Für Notfälle hatte sie in jedem Raum der Wohnung eine Taschenlampe deponiert. Jetzt zog sie eine dieser Taschenlampen aus einer Schublade in der Nähe des Herds.
    Der Strom fiel nicht aus, doch sie beschloss, sie müsse ungeachtet der Blitze vor den Fenstern bei Iris bleiben, bis sie verstand, was hier vorging. Und unter den derzeitigen Umständen durfte sie nicht riskieren, das leicht erregbare Mädchen zu beunruhigen, indem sie die Kleine zwang, aus ihrem Zimmer in die Küche oder einen anderen Raum zu kommen, in dem die

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