Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
hineingeschlagen. War das Gerald? , fragte sie sich.
Ohne länger darüber nachzudenken, drehte sie die defekte Sicherung heraus, ersetzte sie durch eine neue und als würde das Haus zum Leben erwachen, flammten drei Glühbirnen gleichzeitig auf. Anja zuckte kurz zusammen und musste sich die Hand vor die Augen halten, da ihr das grelle Licht schon fast wehtat, dann entspannte sie sich wieder und beeilte sich, so schnell wie möglich wieder aus dem Keller zu kommen.
Auch wenn sie das Rauchen sehr eingeschränkt hatte, jetzt brauchte sie eine Zigarette. Entschlossen kramte sie die Packung aus ihrer Reisetasche, durchquerte die zum Wohnzimmer hin halboffene Wohnküche und trat hinaus auf die Terrasse. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Anja etwas Ruhe. Sie lehnte sich gegen die Hauswand, nahm einen tiefen Zug und genoss das Gefühl, welches der warme Rauch in ihren Lungen auslöste.
Als sie die Zigarette zu Ende geraucht hatte, sah sie sich unschlüssig nach etwas um, worin sie die Kippe entsorgen konnte, und beschloss dann, diese in einer Ecke des Rosenbeetes zu sammeln. Nun fiel ihr Blick erneut auf eine Ansammlung kleiner Äste, die auf der Terrasse lagen und die sie bis jetzt für Überbleibsel von Mutters letzter Gartenpflege gehalten hatte. Von vorne betrachtet schien es ein zufällig entstandenes Muster zu sein. Jetzt aber, da sie von der anderen Seite darauf blickte, bildeten die dünnen Äste das Wort »Willkommen«. Zeitgleich mit einem leichten Windstoß spürte Anja, wie ihr eine leichte Gänsehaut über den Rücken lief. Gerald konnte zwar etwas schreiben und lesen, schrieb aber grundsätzlich alles in kleinen Buchstaben, und das »W« war eindeutig großgeschrieben. Verunsichert ließ sie ihren Blick über den nahen, dunklen Waldrand schweifen, dann ging sie hinein, verschloss die Terrassentür hinter sich und beschloss ihren Bruder danach zu fragen.
Eine halbe Stunde später, Anja legte gerade die letzte ihrer mitgebrachten Hosen in den Schrank des Gästezimmers, klingelte ihr Handy. Ein Blick auf das Display veranlasste sie zu einem kurzen Fluch, die Verabredung mit Florian hatte sie völlig vergessen. Sie hob ab, entschuldigte sich tausend Mal und erklärte ihm dann, was geschehen war. Trotz ihres schlechten Gewissens wollte sie nicht, dass er heute noch vorbeikam. Gerald und sie brauchten einfach etwas Zeit, um sich aufeinander einzustellen, und außerdem stand noch der Besuch im Krankenhaus an. Nachdem sie Florian auf den nächsten Tag vertröstet hatte, legte sie auf und sah nach den vorhandenen Essensvorräten.
Da sich ihre Mutter einen Wecker in die Küche gestellt hatte, der jeden Tag um die Zeit klingelte, wenn der Bus zurückkam, holte dieser nun auch Anja aus ihren Gedanken.
Als sie wenig später gegenüber ihrem Bruder an dem Küchentisch saß und ihm erklärte, dass nun sie anstelle ihrer Mutter für einige Tage hier sein würde, war es ihr unmöglich, irgendeine Emotion in Geralds Gesicht zu erkennen. Erst als er »Mama tot?« fragte, glaubte sie etwas Trauer in seiner Stimme zu hören. Da er danach allerdings feststellte: »Du bist schöner als Mama!«, war Anja sich sicher, sich geirrt zu haben. Geduldig erklärte sie ihm noch einmal, was passiert war und dass Mutter nur einige Tage nicht hier sein würde. Als Gerald dies einigermaßen verstanden hatte, beschloss Anja sich noch eine Zigarette zu gönnen.
Sie legte Gerald seine Malutensilien auf den Tisch und ging erneut auf die Terrasse.
Der Wind war in der Zwischenzeit wesentlich stärker geworden, doch das erklärte nicht, warum nun sämtliche kleinen Äste so unordentlich nebeneinanderlagen, als hätte es das Wort »Willkommen« nie gegeben. Bestimmt irgendwelche Nachbarskinder, ging es ihr durch den Kopf, doch so ganz überzeugte sie dieser Gedanke selbst nicht. Außerdem wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, doch in dem dämmrigen Licht zwischen den Bäumen des nahen Waldes war niemand zu erkennen.
11
Der Besuch im Krankenhaus hatte nur wenige Minuten gedauert, denn auch wenn die Operation ihrer Mutter gut verlaufen war, wirkte die Narkose doch länger nach, als der behandelte Arzt dachte. Anja war sich nicht einmal sicher, ob ihre Mutter mitbekommen hatte, dass sie und Gerald anwesend waren, doch wenigstens ihr Bruder war jetzt ein wenig beruhigter und verstand halbwegs, warum seine Schwester auf ihn aufpasste.
Als der Bus oben an der Hauptstraße, von der aus die Sackgasse zu ihrem Haus
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