Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
Jerry sie nicht finden würde, wenigstens vorübergehend.
Wie sie vorausgesehen hatte, war ihr Dad postwendend aufgetaucht. Angefangen hatte es mit einem Anruf an jenem Morgen, an dem ihr Name in der Zeitung gestanden hatte. »Hey, mein kleines Baby!«, hatte er leutselig und liebevoll gedröhnt, als wären seit seinem letzten Anruf nicht mehrere Monate - fast ein Jahr - verstrichen, ohne dass sie einen Schimmer gehabt hatte, wo er steckte. »Das ist ja ein Ding! Das müssen wir sofort feiern!«
»Wo bist du?«, fragte Jenner, ohne auf das »Feiern« einzugehen. Zu viele Leute wollten mit ihr »feiern«, was grundsätzlich bedeutete, dass sie die Rechnung übernahm. Nach den ersten »Einladungen« war der Reiz schnell verblasst. Bei Michelle lag der Fall anders, denn Michelle hatte
in mageren Zeiten auch für Jenner die Rechnung übernommen, aber ansonsten? O nein.
»Hä? Ach, nicht so wichtig«, trällerte Jerry. »In ein paar Stunden bin ich bei dir.«
»Spar dir die Mühe. Ich muss in die Arbeit. Und bis ich das Geld bekomme, können bis zu zwei Monate vergehen.«
»Zwei Monate?« Das Trällern war nacktem Entsetzen gewichen. »Wieso brauchen die so lange?«
Der gute alte Jerry, dachte sie. Wenigstens spulte er keine sentimentalen Lügen ab, dass er sie besuchen wollte, weil sie seine Tochter war und er sie liebte oder einen anderen Quatsch. »Der Anspruch muss geprüft werden«, gab sie ihre Standardantwort.
»Klar, ganz zu schweigen davon, dass der Staat die Zinsen behalten darf, die deine zweihundertfünfundneunzig Millionen während dieser ›Prüfung‹ abwerfen«, grollte er.
»Auch das.« Ihrer zugegeben groben Schätzung nach verdiente der Staat in zwei Monaten eine gute Million an Zinsen - doch nachdem sie nichts daran ändern konnte, regte sie sich gar nicht erst auf, dass das Geld eigentlich in dieser Zeit auf ihrem Konto liegen und ihr Zinsen bescheren sollte.
»Na, auch egal. Wir können trotzdem feiern.«
»Nur wenn du mich einlädst. Ich bin pleite.« Das wird seine Feierlust wohl empfindlich dämpfen, vermutete sie. In Jerrys Welt zahlten grundsätzlich andere, während er sich freihalten ließ.
»Also, du hast doch gesagt, du musst arbeiten, und wenn du musst, dann musst du. Ich melde mich morgen wieder, okay?«
Das hatte er getan, und seither meldete er sich jeden
Tag. Wenn er morgens nicht auf ihrer Veranda wartete und mit ihr Kaffee trinken wollte - natürlich nicht den Instantkaffee, den sie zur Hand hatte -, dann rief er an und überschüttete sie mit väterlicher Zuneigung, die er nie zuvor gezeigt hatte und die darum umso beunruhigender wirkte. Sie wusste nicht, womit sie ihn hätte abwimmeln können, denn er ignorierte alle Hinweise, dass sie nicht vorhatte, seine zentrale Geldausgabestelle zu werden - falls man die unverblümte Erklärung überhaupt noch als Hinweis bezeichnen konnte. Wenn Jerry etwas haben wollte, konzentrierte er sich so sehr darauf, dass alles andere von ihm abzuprallen schien.
Sie wusste nicht, wie sie ihn loswerden sollte. Sie musste sogar zugeben, dass in ihr immer noch ein Hoffnungsfünkchen glühte, Jerry könne sich diesmal aufrichtig für sie freuen und würde nicht versuchen, sie um möglichst viel Geld zu erleichtern. Glaube und Hoffnung waren zweierlei: Sie glaubte nur das Schlechteste von ihm, hoffte aber trotzdem, dass der Leopard irgendwann seine Flecken abschütteln würde.
Dessen ungeachtet traf sie alle notwendigen Vorkehrungen. Sie ließ ihre Tasche nirgendwo stehen, wo er sie hätte durchsuchen können. Wenn sie auf die Toilette ging und er im Haus war, nahm sie die Handtasche mit. Alles, was mit der Lotterie und den bisher getroffenen finanziellen Arrangements zu tun hatte, steckte fest verschlossen in einem Schließfach, das sie für einen beträchtlichen Teil ihres Wochenlohnes angemietet hatte. Der Schlüssel dazu hing an ihrem Autoschlüssel, und der steckte immer in ihrer Hosentasche, wenn sie nicht im Bett lag; und dann schob sie ihn in den Kopfkissenbezug - eine ganz normale Sicherheitsvorkehrung für jede Tochter, um zu verhindern, dass ihr Vater ihr Auto filzte.
Als sie die Fabrik betrat, kam ein Aufseher auf sie zu. »Jenner, warte noch mit dem Stempeln, wir müssen erst reden.«
»Ich komme zu spät«, protestierte sie mit einem Blick auf die Uhr.
»Das macht nichts. Gehen wir ins Büro.«
Kalte Übelkeit ballte sich in ihrer Magengrube, während sie dem Aufseher Don Gorski in sein winziges, schäbiges Büro mit den
Weitere Kostenlose Bücher