Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
Wand gebohrt, Drähte eingefädelt und dann einen Monitor sowie ein Aufnahmegerät angeschlossen. Und die ganze Zeit über hatte er eisern ihre Kommentare ignoriert. Er war mit beeindruckender Konzentration zu Werke gegangen, obwohl sie sich redlich bemüht hatte, ihn auf die Palme zu bringen.
Sie waren ganz offensichtlich Spione. Ob sie nun richtige Spionage -Spione oder Industriespione waren, Cael wollte definitiv irgendwas ausspionieren.
Sie spürte ein nervöses Prickeln unter der Kopfhaut. Irgendwie kam ihr das Ganze wie die schlechte Variante eines James-Bond-Abenteuers vor, aber höchstwahrscheinlich war sie damit auf der richtigen Spur. Alles andere ergab keinen Sinn. Sie waren zu viele, und sie verfügten über zu viele Ressourcen. Damit stellten sich folgende Fragen: Für wen arbeiteten sie, wen wollten sie ausspionieren, was wollten sie erfahren, und - was die entscheidende
Frage war - würden sie töten, falls sich ihnen jemand in den Weg stellte oder den Erfolg des Unternehmens gefährdete?
Wenigstens eine dieser Fragen ließ sich beantworten, indem sie herausfand, wer in der Suite nebenan wohnte, aber erst wenn sie wusste, für wen diese Leute arbeiteten, würde sie abschätzen können, wie weit sie gehen würden. Bis jetzt waren alle Leute, denen sie an Bord begegnet waren, Amerikaner gewesen oder konnten sich zumindest als solche ausgeben. Falls sie im Auftrag der Regierung arbeiteten, würden sie ihr oder Syd wahrscheinlich nichts tun … hoffte sie. Bei Industriespionen spielten zahllose Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die Summe, um die es ging, weil die Spione wohl kaum entlohnt würden, wenn sie keine Ergebnisse lieferten. Manchen Menschen musste man nur genug Geld anbieten, und schon schmolzen alle moralischen Barrieren dahin. Wahrscheinlich wurde man sowieso nur Industriespion, wenn die moralischen Barrieren nicht allzu fest und hoch waren.
Allmählich sah sie klarer. Okay, es waren also Spione. Sie wollten etwas - wahrscheinlich Informationen, nachdem sie sich solche Mühe gemacht hatten, einen Draht ins nächste Zimmer zu fädeln - und sie brauchten sie … zur Tarnung. Genau! Sie diente nur zur Tarnung! Wahrscheinlich hatten sie ursprünglich diese Suite gebucht und brauchten nach dem Reservierungschaos, bei dem alle Suiten vertauscht worden waren, einen Grund, um sich in dieser Suite aufhalten zu können, ohne dass es Verdacht erregte! Aber wie war es möglich, dass sie früh genug von dem Tausch erfahren hatten, um diese Scharade zu inszenieren?
Natürlich, sie hatten mehrere Leute in die Crew eingeschleust. So wie Bridget. Jenner hatte keine Ahnung, wann
einer Stewardess mitgeteilt wurde, wer in welcher Suite untergebracht war, oder wann die Besatzung an Bord ging; vielleicht hatte gar nicht Bridget, sondern jemand anders davon erfahren. Vielleicht arbeitete einer der Schiffsoffiziere für sie. Die meisten Probleme erledigten sich von selbst, wenn man die betreffenden Leute mit Geld überschüttete.
Im Endeffekt interessierte es nicht, wie sie herausgefunden hatten, dass man die Suiten vertauscht hatte, wichtig war nur, dass Jenner offenbar tatsächlich von Menschen beobachtet wurde, die ihr noch nicht aufgefallen waren. Nachdem sie und Syd diese Suite zugewiesen bekommen hatten, hatte Cael einen wilden Plan ausgetüftelt, Syd als Geisel genommen und Jenner gezwungen, so zu tun, als wäre sie in ihn verliebt, nur damit er Zugang zu ihrer Suite bekam.
Möglicherweise lag sie mit ihren Annahmen komplett daneben, aber das glaubte sie eigentlich nicht. Alles passte zusammen. Sie brauchten sie, und das verlieh ihr, nachdem sich ihre Nerven halbwegs beruhigt hatten und sie wieder klarer denken konnte, eine gewisse Macht. Nicht wirklich viel Macht: Sie konnte Cael nicht zwingen, Syd freizulassen, und solange die Entführer Syd in ihrer Gewalt hatten, konnte sie weder die Security an Bord benachrichtigen noch Cael mit einem Arschtritt aus ihrer Kabine befördern, aber eine wichtige Sache konnte sie durchaus erreichen. Sie würde äußerst vorsichtig vorgehen müssen, denn bis zum Beweis des Gegenteils musste sie weiterhin davon ausgehen, dass diese Leute zu den Bösen gehörten, aber nachdem Cael sie vorhin nicht erwürgt hatte, spürte sie einen leisen Anflug von Zuversicht.
Weil sie diese Zuversicht vielleicht wieder verlieren würde, wenn sie zu lange abwartete, und weil sie keine Sekunde
länger so ohnmächtig und verängstigt bleiben wollte, rüttelte sie ihn an der Schulter.
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