Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
stets auf der Hut vor dem Schmerz, doch er blieb aus. Vorsichtig rappelte ich mich auf, bis ich in meinem nun über und über schmutzigen Nachthemd barfuß im Blumenbeet meiner Mutter stand. Die Bewegungen fühlten sich seltsam an, als würden sie nicht zu mir gehören, doch bis auf ein Ziehen entlang meiner Schulterblätter tat mir nichts mehr weh.
Was war das gewesen? Gehörte das zu jeder Periode? Na danke! Davor hatte mich keiner gewarnt. Musste jede Frau das jeden Monat aushalten? Dann würde ich die erste werden, die ein Mittel dagegen erfand , das schwor ich mir. Doch dann war es vorbei. Ich fühlte mich sogar richtig gut. Kein Gedanke daran, wieder ins Bett zurückzukehren. Ein Drang nach Freiheit erhob sich in mir, der meine Füße in Bewegung setzte. Ich raffte mein Nachthemd und begann zu laufen. Über den Rasen hinweg bis zu dem kleinen Tor, das auf den Hohlweg mündete und dann immer weiter über die Weide mit den Pferden bis zum Teich. Es fühlte sich toll an. Meine Beine schienen plötzlich länger geworden zu sein und schlanker, aber auch kräftiger, denn ich wusste, so schnell war ich noch nie gerannt, und dabei blieb mein Atem ganz ruhig. Nicht wie auf dem Sportplatz, wenn Herr Lohmeier mit seiner Stoppuhr dastand und mir nachbrüllte, ich solle mich mal etwas anstrengen.
»Das ist eine lausige Zeit, Lorena«, schrie er. »Noch einmal vierhundert Meter, aber ein wenig dalli!«
Ich hasste Leichtathletik! Ich hasste es, über die rote Tartanbahn gehetzt zu werden. Doch in dieser Nacht machte mich das Laufen glücklich. Ich fühlte mich so leicht und frei, als würde ich durch die Nacht fliegen. Es machte mir nichts aus, dass meine Mutter sich sorgen könnte, falls sie mein Verschwinden bemerkte, oder mein Vater mich schimpfen und bestrafen würde, wenn er davon erführe. Das alles interessierte mich nicht. Es gab Wichtigeres!
Am Ufer des Sees blieb ich stehen. Ohne darüber nachzudenken, zog ich das Nachthemd über den Kopf, warf es zur Seite und stürzte mich ins Wasser. Es war eiskalt. Selbst im Sommer ging ich nur selten im See baden. Meine Mutter neckte mich immer, dass ich so verfroren sei oder vielleicht sogar wasserscheu … Dann spritzte sie mich nass, und ich lief kreischend davon. Doch in dieser kalten Aprilnacht stürzte ich mich ohne Bedenken ins Wasser und schwamm bis ans gegenüberliegende Ufer.
Das hatte ich noch nie gemacht. Das war viel zu gefährlich. Es sei weiter, als man denkt, sagte meine Mutter stets. Und dennoch lag ich nun am anderen Ufer nackt im Gras und sah zu den Sternen hinauf, die in dieser Nacht viel näher zu sein schienen. Ich reckte die Arme und betrachtete meine Finger. Meine Arme sahen irgendwie anders aus, und auch meine Finger schienen länger und schmaler zu sein. Und erst die Fingernägel! Ich kaute sie immer ab, obwohl meine Mutter mich schimpfte, wenn sie es sah, aber jetzt hatte ich lange, kräftige Nägel, die wohlgeformt spitz zuliefen. Eigentlich hätte es in dieser Neumondnacht viel dunkler sein müssen, doch ich hatte keine Schwierigkeiten, alles zu erkennen. Ich setzte mich auf und sah an mir herab. Es war wirklich seltsam. Das schien nicht mein Körper zu sein. Konnte man sich in einer Nacht so sehr verändern?
Ich trat ans Ufer und betrachtete mich, doch es war nicht mein Gesicht, das mir aus dem spiegelglatten, fast schwarzen Wasser entgegensah. Ich sah eine Frau mit schmalem Gesicht und ein wenig schräg stehenden Augen, die ernst zu mir emporblickte. Als ich die Hand hob, fuhren meine Finger durch schimmernde blonde Locken, die von meinem Bad noch ganz nass waren.
War das wirklich ich? Keine Pausbacken mehr, keine Zahnspange, über die die Jungs lästerten? Und auch keine Pickel mehr! Kein Spliss in den dünnen, schmutzig blonden Haaren. Ha! Die würden am anderen Tag in der Schule Augen machen! Keiner würde mehr hinter meinem Rücken Gehässigkeiten flüstern – natürlich so laut, dass ich sie auch hören konnte. Ich sprang auf und tanzte durchs Gras. Ich war so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Mir tat gar nichts mehr weh. Ich fühlte mich einfach nur herrlich.
Es ziepte unter den Schulterblättern, und plötzlich sah ich etwas aus den Augenwinkeln, das mich erschreckte. Ich fuhr herum, doch da war es verschwunden. Ich hörte nur ein leises Rauschen und spürte plötzlich meine Schultern ganz deutlich.
Wieder diese Bewegung hinter mir. Ganz langsam wandte ich den Kopf und erstarrte.
Das ging nun echt zu weit!
Wie in Zeitlupe
Weitere Kostenlose Bücher