Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
zugelaufen?«
Man ahnte auf dem Hof nichts von dem Schicksal des Tieres. Dreyer seufzte innerlich und wiederholte seinen Wunsch: »Holen Sie bitte Herrn Boll mal her? Und seine Schwester? Ist die auch da?«
Boll, ein kräftiger Mann, der immer etwas zu aufgeregt wirkte, lebte mit ihr und ihrem neunjährigen Sohn Mario zusammen; gemeinsam bewirtschafteten sie den Hof.
»Die Grete? Die guckt vorne gerade nach den Eiern. Nächste Woche schlüpfen neue Küken. Wird ja auch Zeit.«
Die letzte Bemerkung bezog sich offenbar auf die überschaubare Anzahl an herumlaufenden Puten; überfüllt wirkte der Stallboden tatsächlich nicht. Die meisten Masttiere pickten im Futter. Andere tranken an den Wasserstellen. Kein Tier saß auf den Stangen oder den verteilten Strohballen. Für die neue Zucht war bereits ein extra Feld mit tief hängenden Wärmelampen durch dünne Bretterwände abgetrennt worden.
Lotte Wenzke ging los. »Ich hol die beiden.«
»Ich warte draußen auf dem Hof«, verkündete Walter Dreyer, erpicht, dem Mief zu entkommen. In gebührendem Abstand vom Stall machte er halt und sah sich gründlich auf dem Anwesen um. Einer der Hunde wurde also seit gestern vermisst. Wo war der andere? Beiläufig fiel sein Blick auf die Scheune, die jetzt als Schafstall genutzt wurde. Und obwohl er sie bei seinen Besuchen auf dem Hof sicher schon Dutzende Male gesehen hatte, waren ihm die Buchstaben in den Holzbalken über den Toren nie aufgefallen. Die Worte konnte er nicht entziffern, denn die Balken waren runzelig und verwittert. Dreyer blieb auch keine Zeit für gründliche Leseversuche, schon hörte er Laufgeräusche und wandte sich um.
Rudolf Boll kam eiligen Schrittes auf ihn zu. Er trug Gummistiefel und eine mit kleinen und großen Blutflecken gesprenkelte wadenlange, dunkelblaue Schürze. Die Ärmel seines Arbeitshemdes hatte er bis über die Ellbogen hochgekrempelt. »Wo ist Melli?«, wollte er, ohne zu grüßen, wissen. Boll klang ungehalten. »Nichts für ungut, doch ich brauche beide Hunde. Einer allein schafft das nicht. Ich muss die Herde umsetzen.« Dann bemerkte er, dass seine Schroffheit unangebracht war. »Tut mir leid. Sie ist mir noch nie weggelaufen.« Etwas verbindlicher setzte er hinzu: »Sie wissen doch, die Schafe haben eigene Vorstellungen von ihrem Weg und nur Melli und Milla bestimmen, wo es langgeht ... Meine Schwester lässt Milla schon vorsichtshalber nicht mehr aus dem Haus, damit die nicht auch noch wegrennt.«
Wie aufs Stichwort erschien Margarethe Boll, grüßte freundlich und sah Walter Dreyer hoffnungsfroh an. »Haben Sie sie mitgebracht?«
»Nein, Frau Boll. Ich habe Melli nicht dabei. Ich bin hier, um Sie etwas zu fragen.«
Rudolf Boll reagierte wieder gereizter. »Muss das heute sein? Wir haben allerhand zu tun.«
»Ich weiß. Ich will auch nicht länger stören als nötig. Also: Wir haben heute Vormittag einen Schäferhund gefunden.« Der offizielle und zugleich bedauernde Ton, in dem Walter Dreyer diese Mitteilung machte, ließ das Unglück ahnen.
Grete Boll verschränkte die Arme vor der Brust und sah traurig zum Wohnhaus.
Ihr Bruder fragte gepresst: »Was ist passiert? Hat jemand Melli überfahren?«
Walter Dreyer schüttelte langsam den Kopf. Er wollte nicht unnötig Kummer bereiten und fragte vorsichtshalber: »Hatte ihr Hund ein besonderes Merkmal?«
Die Geschwister sahen sich an. Rudolf Boll antwortete: »Na, sie ist reinrassig. Hat gleichmäßig braunes Fell mit schwarzem Rücken. Der Schwanz ist völlig schwarz. Ein Ohr ist etwas eingerissen, vier, fünf Zentimeter.« Er stockte und fragte dann seine Schwester: »Fällt dir noch was ein?«
»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach Dreyer. Das Bild des schwarzen Schwanzes im Bauch der Hündin hatte sich ihm fest eingeprägt. Und das eingerissene Ohr hatte er gleich bemerkt. Es hatte ganz weich auf dem Stein gelegen. »Ich fürchte, wir haben Ihren Hund gefunden. Er wurde nicht überfahren. Tot ist er aber schon. Jemand hat ihn umgebracht.«
»Was? Warum!?«, entfuhr es Margarethe Boll. »Ich meine, warum macht jemand denn so etwas? Oh Gott, wie soll ich das bloß Mario erklären?«
»Ich weiß es nicht«, beantwortete Dreyer irgendwie beide Fragen. »Wir ermitteln noch.«
»Sie ermitteln?«, wurde Rudolf Boll stutzig. »Wegen eines toten Hundes?«
Jetzt kam der heikle Teil. Wie viel durfte er den Bolls erzählen, überlegte Walter. Er entschied sich, möglichst wenige Informationen preiszugeben. Erst wollte er sich
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