Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
hatte sich allerdings nicht die Mühe gemacht, Socken oder gar Schuhe anzuziehen. Er setzte sich zu Walter Dreyer an den Tisch und sah ihn an, als hoffe er, gleich weiterschlafen zu können.
»Deine Großmutter hat uns gesagt, dass du sie gestern besucht hast und auf dem Rückweg vielleicht etwas gesehen haben könntest, was wichtig für die Polizei wäre.«
»Ich?«
»Erzähl doch mal von deinem Nachmittag«, forderte Dreyer freundlich. Er wollte die Erinnerungen des jungen Mannes nicht von vornherein durch Fragen in eine bestimmte Richtung lenken.
Manfred Peuker war inzwischen etwas munterer geworden und begann ohne Umschweife zu berichten: »Einmal die Woche fahr ich meine Oma besuchen. Die freut sich dann. Ich helfe bei irgendwelchen Sachen auf dem Hof oder im Garten und zur Belohnung gibt’s immer richtig leckeren Kuchen. Dieses Mal bin ich aber hin, weil Oma ein neues Kaninchen zum Füttern für uns hatte. Das sollte ich abholen. Mutter hat mir dafür eine Holzkiste gegeben und die habe ich mit Draht auf meinem Gepäckträger befestigt. Zum Abendbrot sollte ich spätestens wieder zu Hause sein, da ist Mutter ziemlich eigen. Also hab ich nach dem Kuchenessen gleich losgemacht.«
»Und welche Strecke bist du genau gefahren?«
»Na, aus Engersen raus zur Hauptstraße und in Kakerbeck dann wieder abgebogen. Dauert normalerweise nicht mal ’ne halbe Stunde, aber mit dem Hoppler hinten drauf …«
Walter Dreyer fragte: »Hast du jemanden getroffen?«
Peuker überlegte. »Niemanden, den ich kenne. Aber einen Mann hab ich überholt.«
»Wo denn?«
»Zwischen Engersen und der 71, schon hinter der Straße nach Wernstedt.«
»Kannst du ihn beschreiben?«
Ohne Probleme schilderte Manfred Peuker seine Beobachtungen: »Der Mann trödelte vor sich hin; hatte eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen hielt er seine Jacke, die ihm locker über der Schulter hing. Er trug Hosenträger. Ich fuhr langsam vorbei und grüßte. Der Alte reagierte aber nicht. Das finde ich blöd. Unsereins soll jeden grüßen, meiner Oma ist das furchtbar wichtig. Die meisten Erwachsenen denken gar nicht dran, zurückzugrüßen, geschweige denn die Hände dabei aus den Taschen zu nehmen. Benimmregeln gibt es immer nur für uns.«
»Der Alte? Wie alt war der Mann denn?«
Nach einigem Nachfragen bekam Walter Dreyer von Peuker eine halbwegs brauchbare Beschreibung: Der Mann war noch keine vierzig Jahre, 175 cm groß, kräftig, mit vollem Gesicht. Bekleidet war er mit einer dunklen Jacke, dunklen Hose, weißem Oberhemd und Halbschuhen. Er trug keine Kopfbedeckung. Das blonde Haar war gescheitelt. Er war glatt rasiert.
»Ich bin dann eben weitergefahren. Vor der 71 habe ich noch mal angehalten und Luft auf meinen Hinterreifen gepumpt. Als ich mich dabei umdrehte, sah ich, wie der Mann über den Straßengraben sprang und hinter einem Baum verschwand. Der musste sicher mal pissen.«
»Hast du ihn wieder vorkommen sehen?«
»Nee, ich bin weitergefahren. War zum Glück nicht viel Betrieb. Selbst mit dem Karnickel war ich pünktlich zu Hause.«
»Sonst hast du niemanden gesehen? Weißt du, wir müssen alle Leute finden, die an dem Nachmittag unterwegs waren. Jeder könnte etwas Wichtiges beobachtet haben.«
»Mir ist niemand sonst begegnet. Erst wieder hier, kurz vor Jemmeritz, zwei Frauen aus unserem Dorf.«
~ 22 ~
»Dreißig Silberstücke?« Laura staunte.
Judith nickte müde. Sie war erst spät am Abend nach Hause gekommen.
Nun saßen sie bei Kerzenschein im Wohnzimmer beisammen und versuchten mit einer Flasche Rotwein von dem furchtbaren Tag Abstand zu gewinnen. Sie warteten auch noch auf Walter, der in seinem Büro Schreibarbeiten zu erledigen, aber bereits angekündigt hatte, dass er sich danach noch zu ihnen setzen wollte.
Judith sprach ganz offen mit Laura. Schon einige Male hatte die ihr bei Ermittlungen geholfen. Sie berichtete zunächst über den Mord an dem Mädchen und kam dann nochmals auf den toten Hund von gestern zu sprechen. »Ja. Erstaunlich, nicht. Es präzisiert die Botschaft – es geht nicht ums Geld, sondern um den Verrat.«
Laura sah Judith fragend an. »Was meinst du?« Sie konnte diese Bemerkung nicht einordnen.
»Oh, Walter meinte gestern, es ginge um Geld, Sex und Verachtung.«
»Verstehe. So kann man es sicher sehen.« Laura nahm einen kleinen Schluck Wein. Dann fiel ihr ein: »Es gibt aber auch die Interpretation, dass der Verrat gar keiner war und alles in einem göttlichen Plan
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