Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
nachsichtig mahnend an. »Das beweist eigentlich nur, wie recht ich mit meiner Nachfrage habe.«
»Sieh mal, was ich in meinen alten Seminarmitschriften entdeckt habe.« Laura legte ein kariertes, gelochtes DIN A4-Blatt auf den Tisch, auf das mit hellblauer Tinte einige Zeichen gemalt waren. Daneben standen entsprechende Erklärungen. »Das hatten wir im Paläografiekurs im zweiten Semester.«
»So was haben sie euch beigebracht? Diebeszinken?« Walter war mehr als verblüfft. »Wozu?« Ihm leuchtete das nicht ein. »Falls ihr eine lukrative Karriere als Einbrecher oder Schnorrer dem Abstauben von alten Akten vorziehen würdet?« Er zog Laura immer wieder gern mit ihrem wenig glamourösen Fachgebiet auf.
Sie knuffte Walter in die Seite. »Natürlich nicht, du Ignorant. Auch wenn ich über diese Alternative vielleicht einmal nachdenken sollte … Sondern einfach, um die verschiedenen Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung durch Zeichen aufzuzeigen. Und, um dich zu beruhigen, wir haben auch über Piktogramme und Bilderhandschriften geredet.«
»Soso.« Walter besah sich das Foto aus Wiepke. Laura hatte ihm die Lupe gereicht. Ihm fiel das Naheliegende sofort auf: »Was sollte denn in dieser Bruchbude zu holen gewesen sein?«
Laura zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, wie lange der Zinken dort schon zu sehen ist. Das kann Jahrzehnte her sein.«
»Gibt’s das öfter?«, fragte Walter sich laut. Und dann fiel ihm ein, dass über dem Eingang des Zabel’schen Fachwerkhauses auch eine Balkeninschrift zu lesen war. Er hatte bisher nicht weiter darauf geachtet, doch nach dem grausigen Fund vor diesem Haus hielt er vieles für möglich. Rasch suchte er aus den Unterlagen, die Judith gestern Abend mitgebracht hatte, die Tatortfotos vom alten Pfarrhaus heraus. Die große Kastanie vor dem Gebäude verdeckte immer ein Stück des Hauses, sodass die Inschrift auf keinem der Fotos komplett zu sehen war. Sie legten also mehrere nebeneinander und Laura begann, die Buchstaben zu entziffern und auf einem alten Briefumschlag zu notieren: Verrlas mich nicht. Herr mein Gott, sey nicht ferne von mier. E[i]le mier be[y]zu[sten] Herr meine hilf. psalm 38. Als sie fertig war, las sie Walter langsam die eindringlichen Worte vor: »Verlass mich nicht, Herr, mein Gott. Sei nicht ferne von mir. Eile, mir beizustehen, Herr, meine Hilfe. Psalm 38.«
»Hm, da hat ja jemand ganz schön Bammel«, kommentierte Walter.
Laura nickte nachdenklich. »Denk dir nur – der Hausherr hat tatsächlich auf Psalm 38 Bezug genommen!«
Walter wollte schon ärgerlich werden, weil Laura mal wieder so tat, als müsse jeder wissen, wovon sie da redete, sah dann aber, wie sie ihm schelmisch zuzwinkerte. Sie nahm ihn auf den Arm! »Psalm 38! Wer hätte das gedacht!«, ging er auf ihr Spielchen ein.
»Ja. Ganz schön gruselig.« Noch war sie nicht bereit, ihn aufzuklären.
»Du solltest nicht immer, wenn du Psalm 38 siehst, gleich das Schlimmste annehmen«, riet Walter ihr, obwohl er keine Ahnung hatte, worum es überhaupt ging.
Laura wollte mit dem Rätselraten weitermachen, doch Walter wurde ungeduldig. »Wärst du bereit, mir für eine Tasse Kaffee mehr zu erzählen?«
»Eigentlich nur für zwei«, feilschte Laura. »Deiner ist bestimmt schon kalt. Und etwas ist dir sicher noch nicht aufgefallen.« Sie zeigte auf das Ende des ersten Verses. »Sieh mal, hier. Auch im Pfarrhaus gab es offenbar für Diebe einiges zu holen.« Zwischen dem schönen G und dem o war etwas nach unten versetzt, klein, doch deutlich erkennbar, ein Kreuz aus zwei gleichlangen Strichen.
Walter sah kurz auf Lauras Mitschriften und flüsterte verblüfft: »Mann im Haus.«
~ 27 ~
Etwas angespannt wartete Grambow in seinem Büro auf Judith Brunner. Sie hatte ihn angerufen und gebeten, sie am Vormittag wieder zu Clara Eichner zu begleiten. Außerdem wollte sie sich vor Ort über die Lage im Dorf ein Bild machen. Grambow überlegte, was er seiner Vorgesetzten Neues berichten könnte. Viel hatte sich nicht getan. Immer noch waren Leute im Dorf unterwegs und befragten die Einwohner. Nach und nach kamen die Rückmeldungen bei ihm rein, doch bisher hatte sich nichts wirklich Hilfreiches ergeben. Als das Auto vor der Tür hielt, war er froh, endlich etwas tun zu können. Er begrüßte Judith Brunner und lud sie auf einen Kaffee ein.
Obwohl Grambows Kaffee sicher nicht mit dem von Dr. Renz mithalten konnte, nahm sie an. Sofort merkte sie, dass sich der Ortspolizist um etwas
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