Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
Berger hatte den Jungen gesehen.
So führte ihn sein Weg zum Gutsgelände, wo Wilhelm Berger in einem kleinen Häuschen wohnte. Jahrzehntelang hatte der inzwischen hochbetagte Mann die Gartenarbeit auf dem Anwesen der Ahlsens erledigt. Die Zucht und die Pflege der wertvollen Pflanzen waren zu seinem Lebensinhalt geworden. Er gehörte praktisch zur Familie und genoss nun hier seinen verdienten Ruhestand.
Die Ahlsens selbst waren alle seit Freitagnachmittag für eine Woche verreist. Leon hatte, unter Hinweis auf ein schon länger anberaumtes Familientreffen, irgendetwas von einem üblen Problem mit seinen Eltern gemurmelt, und Botho Ahlsens fuhr mit, um dem jungen Mann nötigenfalls beistehen zu können. Er hatte Leon vor ein paar Jahren in seinen Haushalt aufgenommen, ohne irgendetwas Genaues über diesen entfernten Verwandten zu wissen und ohne allzu intensiv nach dessen Motiv für sein freiwilliges Exil in Waldau zu fragen. Sie hatten dann nur einmal, ein einziges Mal über dieses Thema gesprochen. Es war in der Zeit, als Leon erfuhr, dass er und Elvira Bauer ein Baby bekommen würden. Leon hatte Botho Ahlsens erklärt, warum er den Kontakt zu seinen Eltern beendete, und der hatte die Gründe ohne Weiteres anerkennen können. Ahlsens Menschenkenntnis trog ihn nicht, sein Vertrauen war gerechtfertigt gewesen und mittlerweile war er Leon und dessen turbulenter Familie auch emotional tief verbunden. Astrid Ahlsens, Lauras Freundin seit Kindertagen, begleitete die beiden Männer mit ihrem zweijährigen Töchterchen auf der Reise. Die nicht in Waldau lebenden Ahlsens hatte die kleine Ella noch nicht gesehen und waren entsprechend neugierig.
Auf dem Gutsgelände herrschte absolute Stille.
Walter Dreyer traf Berger beim Holzholen an. Ein Weidenkorb war schon mit einigen kleineren Scheiten gefüllt. Wilhelm Berger langte gerade auf den Holzstapel, als er den Besucher bemerkte.
»Lassen Sie mich das bitte für Sie nehmen«, bat Dreyer und begrüßte den alten Mann mit Handschlag. Dann füllte er den Korb. »Ich suche den Mario Boll. Seine Mutter sagte mir, Sie hätten ihn heute Mittag gesehen?«
»Ist er immer noch nicht wieder aufgetaucht?«
»Nein. Sie sind offenbar der Letzte, der ihn gesehen hat. Können Sie sich noch an die Uhrzeit erinnern?«
»Kurz nach zwölf. Ich wollte gerade anfangen, mir mein Mittagessen zu machen.«
Dreyer rechnete nach. Vor mehr als vier Stunden also. »Wo genau haben Sie ihn denn gesehen?«
»Na, hinten beim Lindendom, auf dem Weg zu den Pferden.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
Wilhelm Berger schüttelte den Kopf. »Er war zu weit weg. Was sollte ich auch mit ihm reden? Der Junge war recht fix unterwegs.«
»War er allein?«
»Glaub schon, hab keinen weiter bei ihm gesehen.« Berger machte eine beschwichtigende Geste. »Der wird schon wieder auftauchen; sind schließlich Ferien. Bei dem Wetter strolchen die Jungs nun mal rum.«
Walter Dreyer hoffte inständig, dass Berger recht behielt. Seine anfängliche Gelassenheit schmolz mehr und mehr dahin. »Und sonst, war noch jemand in der Nähe? Oder haben Sie irgendetwas bemerkt?«
»Nö, sind doch alle wech ... Ach! Warte. Ja, den verrückten Mirow aus Engersen hab ich noch gesehen. Der kam wenig später aus Richtung der Pferdeweiden auf seinem Fahrrad angefahren. Macht hier immer mal seine Runde. Hat ›Mahlzeit!‹ gerufen und ist dann weitergefahren.«
Ausgerechnet Mirow! Das könnte Probleme bedeuten. Es nützte nichts – Walter würde in Gardelegen anrufen müssen. Er verabschiedete sich von Wilhelm Berger und fuhr zurück in sein Büro.
Judith war gleich am Telefon und hörte ihn seufzen: »Jetzt fehlt auch noch ein Junge!«
»Nein! Bloß das nicht!«, erwiderte Judith erschrocken.
Walter beruhigte sie gleich wieder: »Ich denke nicht, dass das mit dem Mord an Ilona Eichner zusammenhängt. Es passt einfach nicht.«
»Was vermutest du denn?«
»Hm, ich denke, der Junge will zu seinem Hund. Der ist seit heute Morgen mit der Herde unterwegs, und da er ihn nicht auch noch verlieren will, ist er wohl in Sorge.« Walter stockte kurz. Dann setzte er euphorisch fort: »Daran hätte ich auch gleich denken können. Ich habe da so eine Idee, wen ich noch fragen könnte.«
Judith rang mit sich. Sollte Walter sich irren und dem Jungen war etwas passiert, war das fraglos das Ende ihrer Karriere. Doch was konnte sie tun? »In Ordnung, mach. Aber wenn du ihn nicht binnen einer Stunde findest, werde ich eine neue Suchaktion
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