Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
lassen sollte. Mein Gott, wenn ich jede meiner Fantasien in die Tat umsetzen würde, gäbe es ein paar Tote mehr in dieser Stadt!«
~ 31 ~
Walter Dreyer war aus Wiepke zurückgekehrt. Er hatte Lisa Lenz bereits telefonisch mitgeteilt, dass Ilona Eichners Schwarm mit seinen Eltern zurzeit verreist war.
Gerade wollte er nach nebenan gehen, um Laura für ihre Exkursion zu Schäferei abzuholen, als es plötzlich an seine Fensterscheibe hämmerte. Der Bleistift für seine Notizen fiel ihm aus der Hand, so sehr schreckte ihn das Stakkato auf. Um ein Haar hätte die hereinstürmende Margarete Boll ihn mit seiner eigenen Bürotür erschlagen, als er sich nach dem Stift bückte.
»Mein Junge ist weg!«
Walter Dreyer nahm die Mitteilung trotz der Dramatik der letzten Tage gelassen entgegen. Er wusste, dass der muntere Drittklässler schon öfter auf eigene Faust unterwegs gewesen und stets nach ein paar Stunden wieder aufgetaucht war. Die Hälfte aller Dorfkinder, zumindest die, die der direkten Aufsicht eines Erwachsenen hatten entkommen können, hielt sich irgendwo auf, wo sie nicht sein sollten oder durften, weil das die Erwachsenen für zu gefährlich oder für zu dreckig hielten. Sie trieben sich einfach herum. Und da Mario Boll zu ihnen gehörte, fand Walter Dreyer, dass seine Mutter etwas überreagierte. Doch mit einem Kindermord im Hintergrund war die Situation nicht gerade so, dass er ihr das auch sagen würde. Er schaute sie nur fragend an.
»Sie helfen doch sonst immer! Wo, verdammt, steckt der Junge nur? Jetzt, wo dieser Perverse rumrennt!«, rief Margarete Boll aufgebracht.
»Wo ist denn Ihr Bruder?«, fragte Dreyer ganz ruhig.
»Ach, der setzt die Schafe um; ist in aller Herrgottsfrühe mit dem Hund weg. Der kann mir nicht helfen!«
»Und Mario ist nicht mitgegangen?«
»Rudolf wollte ihn nicht dabeihaben. Er muss bis hinter an die Bäke und mit nur einem Hund ist das schwierig genug. Da braucht er nicht auch noch den Bengel, auf den er aufpassen muss ... Ich hab schon überall rumgefragt. Mario sollte zum Mittag zu Hause sein. Pünktlich um eins. Da kam er aber nicht. Der alte Berger hat ihn gegen zwölf noch gesehen, hinten, bei der Nachtweide.«
»Bei den neuen Pferden? Vielleicht ist er ja immer noch da? Ich geh gleich mal los und sehe nach. Und Sie gehen am besten nach Hause, falls Mario inzwischen zurückkommt.« Walter Dreyer versuchte ein gewinnendes Lächeln.
Margarete Boll war zwar nicht beruhigt, fügte sich aber diesem Vorschlag. Immerhin hatte sie die Polizei dazu gebracht, sich um ihren Jungen zu kümmern.
Laura würde sich gedulden müssen. Walter hielt es im Moment weder für angebracht, die aufgeregte Frau wegen der Balkeninschrift in der Schäferei zu belästigen, noch wollte er die Suche nach dem Kind aufschieben. Je eher er Gewissheit hatte, dass es Mario Boll gut ging, desto besser. Er gab dem draußen rauchenden Kollegen von der Bereitschaftspolizei ein Zeichen, dass er jetzt das Büro besetzen musste. Walter schnappte sich sein Fahrrad, gab Laura noch Bescheid und begann die Suche.
Bei den Pferden fand Walter Dreyer den Jungen nicht, auch nicht auf der Wiese im Gutspark, wo oft Fußball gespielt wurde, und auch nicht beim Kletterbaum, einer alten Platane mit starken, tief hängenden Ästen. Nachdem er bei den verfallenen Stallungen niemanden entdeckt hatte, fuhr er zum aufgegebenen Hof am Dorfrand. Vor Jahren schon hatte er veranlasst, dass Fenster und Türen zugenagelt wurden, doch ungeachtet dessen hatten sich ab und zu Rumtreiber und andere Interessierte Zugang verschafft. Warum nicht auch ein neunjähriger Junge?
Vorsichtig schob Dreyer die lockeren Bretter an der Hintertür beiseite. Er sah den Staub im fahlen Licht tanzen, das durch die Ritzen und Löcher in die Diele des verrottenden Hauses fiel. Eindringendes Wasser hatte die Dielung völlig marode werden lassen; an einer Stelle war durch ein Loch schon der Keller zu sehen. Hoffentlich war Mario hier nicht gestürzt und hatte sich verletzt. Walter Dreyer rief seinen Namen und lauschte in die Stille. Nichts war zu hören. Mit höchster Konzentration durchsuchte er die Räume, blieb jedoch erfolglos. Außer den Spuren von Trinkgelagen und erstaunlich vielen Tierlosungen fand er nichts.
Nun begann auch Dreyer, sich langsam ernsthaftere Sorgen zu machen. Die Nachmittagssonne warf schon die ersten langen Schatten und er hatte immer noch keine Spur von Mario. Wen Walter Dreyer auch fragte – niemand außer
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