Nachtprogramm
oder Begebenheit, sondern eine tiefe Erschütterung angesichts der Erkenntnis, dass alle diese Ereignisse zusammenhängen und eine endlose Kette von Schuld und Leid bilden.
Ich griff instinktiv zu meinem Notizbuch, doch sie packte meine Hand und hielt sie fest. »Wenn du jemals«, sagte sie, »jemals über diese Geschichte schreibst, rede ich nie wieder mit dir.«
In der Kinoversion unseres Lebens hätte ich sie getröstet und ihr versichert, dass sie richtig und vernünftig gehandelt hatte. Es entsprach nur der Wahrheit, und außerdem kann sie auch gar nicht anders.
In der tats ächlichen Version unseres Lebens ging es mir einfach darum, sie umzustimmen. »Ach, komm schon«, sagte ich. »Die Geschichte ist wirklich lustig, und sei ehrlich, du machst ganz bestimmt nichts daraus.«
Dein Leben, deine Privatsph äre, dein gelegentlicher Kummer – du machst ganz bestimmt nichts daraus. Ist das der Bruder, der ich immer schon war, oder der Bruder, zu dem ich geworden bin? Ich hatte mir Sorgen gemacht, der Regisseur des Films könnte mich und meine Familie falsch darstellen, aber jetzt kam mir ein noch viel schlimmerer Gedanke: Was, wenn er uns richtig darstellte? Dämmerung. Die Kamera fährt eine gesichtslose Vorstadtstraße entlang, bleibt bei einem am Straßenrand stehenden viertürigen Wagen hängen, in dem ein kleiner, böser Mann sich an seine Schwester wendet und sagt: »Was ist, wenn ich die Geschichte verwende, sie aber einer Freundin zuschreibe?« Vielleicht aber ist das noch nicht das Ende des Films. Vielleicht sehen wir, bevor der Abspann anfängt, den gleichen Mann, wie er mitten in der Nacht aus dem Bett steigt, sich am Schlafzimmer seiner Schwester vorbeischleicht und nach unten in die Kü che geht. Das Licht geht an, und wir sehen auf der anderen Seite des Raums einen großen, frei stehenden Käfig, über den ein Tuch geworfen ist. Er nähert sich vorsichtig, zieht das Tuch weg und weckt eine Blaustirnamazone,
deren Augen in dem pl ötzlichen Licht rot leuchten. Durch alles, was bisher geschehen ist, wissen wir, dass der Mann etwas Wichtiges zu sagen hat. Aus seinem eigenen Mund klingen die Worte bedeutungslos, deshalb rückt er einen Stuhl neben den Käfig. Die Uhr zeigt drei, dann vier, dann fünf, und er hockt die ganze Zeit vor dem glänzenden Vogel und wiederholt langsam und deutlich die Worte: »Vergib mir. Vergib mir. Vergib mir.«
Sechs bis acht schwarze M änner
Ich war nie ein gro ßer Freund von Reiseführern; um mich zurechtzufinden, frage ich daher, wenn ich in eine mir unbekannte amerikanische Stadt komme, als Erstes den Taxifahrer oder den Hotelportier irgendeine dumme Frage über die Zahl der Einwohner. Ich sage »dumme«, weil es mich eigentlich nicht interessiert, wie viele Leute in Olympia, Washington, oder Columbus, Ohio, wohnen. Die Städte sind okay, aber Zahlen bedeuten mir nichts. Meine zweite Frage betrifft vielleicht die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge, aber auch die sagt mir nichts über die Leute, die diese Stadt zu ihrer Heimat erwählt haben.
Was mich wirklich interessiert, sind die im Staat geltenden Waffengesetze. Darf ich versteckt eine Waffe tragen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Wie lange muss man auf eine Maschinenpistole warten? K önn te ich eine Glock 17 kaufen, wenn ich frisch geschieden wäre oder vor kurzem meinen Job verloren hätte? Aus Erfahrung weiß ich, dass man sich diesen Themen so behutsam wie möglich nähern sollte, besonders dann, wenn man ganz allein mit einem Bewohner der betreffenden Stadt in einem relativ kleinen Raum sitzt. Hat man aber Geduld, bekommt man meist ein paar hervorragende Geschichten zuhören. Zum Beispiel habe ich erfahren, dass Blinde in Texas und in Michigan ganz offiziell jagen dürfen. In Texas müssen sie einen Begleiter dabeihaben, der sehen kann, aber in Michigan, habe ich gehört, können sie ganz alleine losziehen, was als Erstes die Frage aufwirft: Wie finden sie das, was sie geschossen haben? Und gleich als zweites: Wie kriegen sie es nach Hause? Dürfen Blinde in Michigan auch Auto fahren? Ich frage nicht deshalb nach Waffen, weil ich gerne selbst eine hätte, sondern weil die Antworten sich von Bundesstaat zu Bundesstaat gewaltig unterscheiden. In einem Land, das immer einheitlicher wird, emp finde ich diese letzten Farbtupfer des Regionalismus als aufbauend.
In Europa sind Feuerwaffen kein Thema, sodass bei meinen Reisen ins Ausland meine erste Frage meist den Stalltieren gilt. »Wie
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