Nachtruf (German Edition)
darauf die Hand gegeben, einen weiteren Drink genommen, und James hatte das Geld eingesteckt.
Er rülpste und warf die leere Flasche aus dem Fenster. Dann setzte er sich kerzengerade auf, als sich die Haustür mit einem Knarren öffnete. Pünktlich auf die Minute. Das kleine Mädchen war noch im Schlafanzug und hielt einen Milchkarton an die Brust gedrückt. Beim Anblick der zerzausten dunklen Locken überkam James ein Anflug von Nostalgie. Die Kleine sah genauso aus wie seine süße Annabelle in dem Alter.
Angestrengt versuchte er, sich an den Namen des Kindes zu erinnern. Wie hieß sie noch gleich? Haley .
James legte seine Hand auf den Türgriff des Chevy und hörte das leise Klicken, als sich die Wagentür öffnete. Er stieg aus und achtete darauf, nicht zu viel Lärm zu machen. Die Kleine war auf dem Weg zu einem Geräteschuppen im Garten des Nachbarhauses. Dort wartete ein Wurf kleiner Kätzchen auf Milch. Der Fremde hatte ihm erzählt, sie käme jeden Morgen, um sicherzugehen, dass die kleinen Streuner ihr Frühstück bekämen. Gestern am späten Abend hatte er James angerufen und angekündigt, der Zeitpunkt zum Geldverdienen sei nun gekommen.
Er tat ja nichts Böses. Wollte er nicht ohnehin mal seine einzige Enkeltochter kennenlernen?
Er hastete an einem üppig blühenden Schmetterlingsbusch vorbei und folgte demselben Weg, den das kleine Mädchen genommen hatte.
37. KAPITEL
Zwei Tassen Kaffee standen auf der Anrichte in der Küche. Nur eine dünne Schicht Puderzucker war von den Donuts aus der Bäckerei an der Ecke übrig geblieben. Rain fuhr mit dem Finger durch das süße schneeweiße Pulver. Von oben ertönte das Klopfen der alten Wasserleitungen – was bedeutete, dass Trevor unter der Dusche war.
Als sie begann, die Frühstücksteller abzuräumen, bemerkte sie das blinkende Licht der Telefonkonsole an der Wand. Wann war der Anruf eingegangen?
Rain wählte die Nummer ihrer Mailbox. Eine Computerstimme verkündete, dass es eine neue Nachricht gab, und zwar vom späten gestrigen Abend. Rain tippte ihren Zugangscode in die Tastatur. Olivers Stimme drang undeutlich an ihr Ohr. Lallte er?
Dr. Sommers? Gehen Sie ran. Auf dem Handy erreiche ich Sie nicht. Ich muss mit Ihnen reden. Scheiße. Gehen Sie doch einfach ans Telefon …
Ihr Handy. Für gewöhnlich hatte Rain es immer bei sich, schließlich war es die Nummer, die sie ihren Patienten für Notfälle gab. Aber jetzt erinnerte sie sich, es auf den Sitz des Taurus geworfen zu haben, nachdem sie den Notruf abgesetzt hatte. Gestern Abend hatte sie vergessen, es mit ins Haus zu nehmen. Olivers zweiter Anruf auf dem Festnetzanschluss war unbemerkt geblieben. Sie überlegte, ob er direkt auf die Mailbox geleitet worden war, als Trevor mit dem Krankenhaus und der Polizei telefoniert hatte.
In ihrem Büro fand sie die Nummer von Olivers Handy. Sie ließ es mehrmals klingeln, doch niemand nahm ab. Ein Anruf in dem Haus auf der St. Charles Avenue brachte dasselbe Ergebnis. Was sollte sie tun? Nach Oliver zu suchen war zwecklos, da sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wo er sich aufhalten könnte.
Rain ging ins Wohnzimmer. In diesem Moment kam Trevor die Treppe herunter. Er trug Jeans und ein frisches T-Shirt. SeinHaar war feucht, und er hielt sein Handy in der Hand.
„Was ist los?“, fragte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte.
„Annabelle hat gerade angerufen. Es geht um meine Nichte Haley. Sie ist verschwunden.“
Das Bild des kleinen Mädchens tauchte vor Rains innerem Auge auf. Ihr stockte das Herz. „Jemand hat sie entführt?“
„Nicht jemand. Mein Vater. Ich muss sofort zu Annabelle.“
Rain verzichtete darauf, sich umzuziehen, und begleitete Trevor zu Annabelles Haus. Sie fand ihr Handy im Auto und versuchte während der Fahrt erneut, Oliver zu erreichen. Aber ohne Erfolg.
Ein Notfall nach dem anderen, dachte sie, als sie das Telefon in ihre bunte Jeansumhängetasche stopfte. Das war einer von Celestes Lieblingssprüchen gewesen. Ihre Tante hatte ihn oft benutzt, als Rain in ihrer Teenagerzeit die üblichen Dramen hatte durchleben müssen. Sie hoffte nur, dass hinter Olivers Anruf auch nicht mehr steckte als so ein theatralischer Ausbruch. Eines war jedenfalls sicher: James Rivette hatte ein tadelloses Timing. Rain sah zu Trevor. Er hatte die zulässige Höchstgeschwindigkeit schon weit überschritten. Rain fragte sich, wie viel ein Mann aushalten konnte.
Als sie in die Straße einbogen, fiel ihr Blick auf den Streifenwagen
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