Nachts kommen die Fuechse
auch die Mädels. Nichts ist an diesem Foto älter geworden, du nicht, das Foto selbst auch nicht. Letztes Jahr bist du auf einmal zwischen alten Zeitungen aufgetaucht, Provo-Bewegung, Parolen wie »Klaas kommt«, solcher Blödsinn. Spinnweben. Du willst dir nicht vorstellen, daß das alles wirklich passiert ist. Monatelang hatte ich zu tun, es war wie ein Militärfeldzug. Koffer, Schränke, Mappen, diese Seemannskiste mit den Tagebüchern kam als eines der letzten Stücke dran, und darin warst du. Das fliegt dann demnächst auch noch alles ins Feuer, nur das Foto nicht. Du schaust hinaus, stützt dich mit dem linken Ellbogen gegen den Fensterrahmen und hältst den Unterarm nach oben, so daß die Hand mit der eben angezündeten Zigarette ungefähr überdeinem Kopf schwebt. Das ginge heutzutage nicht mehr bei der Vogue , Rauchen, und diese eigentlich zu kurzen Fingernägel auch nicht. Es war ein freches und geiles Foto, schon damals, und auch heute noch. Kein Busen, ein Jungenkörper. Um den Oberkörper ein straff gewickeltes weißes Band, das war damals offenbar Mode. Es sieht aus, als hättest du dich einer Brustamputation unterzogen. Das busenlose Wunder, sagte der Baron. Und der Schriftsteller hatte auch was beizutragen, ihre fast Knabenbrust , eine Gedichtzeile, ich weiß nicht, von wem. Die dunkle Hose bis kurz unter den Nabel, rechte Hand in der Tasche, die Haut überall mit den Wassertropfen bedeckt, die wie Tränen an der Fensterscheibe hängen. Der Hintergrund ist dunkel, du trittst leuchtend aus ihm hervor, den Mund leicht geöffnet, die Augen auf etwas draußen gerichtet, ich kann nicht zu lange hinschauen. Du stehst da im Totenreich, und gleichzeitig willst du noch etwas mit deinem halb geöffneten Mund. Ich höre deine Stimme, diesen Klang, den wir alle noch auf dem Sterbebett erkennen würden, rauh, heiser, Alkohol, Rauchen, etwas davon kam immer schon, bevor du etwas sagtest, ein Hauchlaut, der deiner Stimme voranlief. Hau-hau, und dann begann das gnadenlose Einspinnen, dem sich niemand entziehen konnte. Lebensgefährlich beim Poker, mit dieser Stimme machtest du aus einer hoffnungslos schwachen Hand noch ein Full house.
2
Ich setze mich genau vor dich. In einer Wohnung mit lediglich einem Stuhl bedeutet das etwas anderes als in anderen Wohnungen. Dein Foto habe ich jetzt auf die Fensterbank gestellt, du bewegst dich mit mir mit. Ein paar große Kieselsteine an den unteren Rand, damit du nicht wegrutschst. Draußen ist es trübe, das paßt zu den Regentropfen an deiner Scheibe. So hast du Regen vor dir und hinter dir. Ich bilde mir ein, daß du mich siehst, vermute aber, dem ist nicht so. Ist vielleicht besser, du würdest mich ohnehin nicht mehr erkennen. Darum spreche ich auch nicht laut, obwohl das in dieser Konstellation eigentlich merkwürdig ist. Ich höre hier nie jemanden, und niemand hört mich. Glaube ich.
Wir lebten im süchtigen Jahr. So nannten wir damals jedes Jahr, denn süchtig waren wir, und wir wußten es. Eine Nacht ohne Slof war keine Nacht, ich spüre noch, wie meine Hand die Karten aus dem Schlitten zog, wenn ich die Bank hatte. Ich spüre es, und ich höre das Geräusch. Als du zum erstenmal auftauchtest, hatte ich die Bank. Die Linke auf dem Schlitten, den beiden hohen Holzrändern, die Rechte zugriffsbereit, Finger schon auf der vordersten Karte. Offiziell heißt das Spiel Bakkarat oder Chemin de fer, aber wir hatten unsere eigene Variante, mit eigenenRegeln, und wir nannten es Slof, das reichte. Wenn irgend möglich, spielten wir jeden Abend Slof, so auch an jenem. Es war wie immer etwas schummrig im Zimmer, so daß der Tisch sich in einem Lichtkreis befand und man eigentlich nur noch die Gesichter darum herum richtig sehen konnte. Es hatte geklingelt, jemand hatte geöffnet, wer nicht selbst spielte, schaute sich um, und es wurde still, wie es nur dann geschah, wenn Fremde auftauchten, Leute, die wir nicht kannten. Du kamst in niemandes Begleitung, das war nicht üblich, aber wir fragten nicht nach, das entsprach nicht unserem Stil. Ich hatte die Hand auf den Kartenschlitten gelegt. Wir mochten es nicht, wenn sich das Spiel verzögerte, aber hier mußten zunächst Begrüßungen ausgetauscht werden. Dann hörten wir zum erstenmal diese Stimme. Cinco habe dir die Adresse gegeben, sagtest du. Cinco, siehst du den noch vor dir? Den ewigen Einzelgänger? Karierte Tweedmütze, lebendes Inventar im Hoppe? Einst im Gemeinderat auf der Liste für den Verkehrssicherheitsverband,
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