Nachtsafari (German Edition)
Marcus’ Zügen kämpften Hoffnung und Zweifel miteinander.
»Ich habe nichts anzuziehen«, stellte sie schließlich fest.
Erst begriff er ihre Worte offenbar nicht, aber dann schien eine Bürde von ihm abzufallen. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Es begann in seinen Mundwinkeln, erreichte seine Augen und brachte sie zum Strahlen. Er beugte sich zu ihr und küsste sie hingebungsvoll auf den Mund.
»Du hast Zeit bis Mittwochmorgen«, murmelte er, seine Lippen auf ihren.
Mit einer energischen Bewegung machte sie sich von ihm los. »Und ich will den Ozean sehen, einen richtigen Ozean, nicht nur einen wie die Nordsee. Wenn schon, denn schon.«
Marcus streckte seine Beine aus und legte die Hände hinter den Kopf, seine Miene war ausdruckslos. Sein Schweigen dauerte an, bis sie abermals die Geduld verlor.
»Was ist – geht das nicht? Südafrika ist doch umgeben vom Meer. Wir könnten nach Kapstadt fahren.«
Ein Ruck durchlief ihn. »Warte einen Augenblick, ich muss was überlegen … Kapstadt liegt geschätzte eineinhalbtausend Kilometer von der Mine entfernt, und dahin muss ich zuerst. Aber die liegt im Herzen von KwaZulu-Natal, in Zululand, und das grenzt im Osten an einen Ozean, der diesen Namen wirklich verdient. Der Indische Ozean …«
Er ließ den Satz in der Luft hängen, und für eine Sekunde leuchtete ein Ausdruck aus seinen Augen, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Etwas wie ein tiefes Verlangen, stellte sie er staunt fest. Aber das ergab keinen Sinn. Vermutlich hatte sie sich geirrt.
»Also, der Indische Ozean … wie weit ist es dorthin von der Mine?«
Er zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht genau. Zwischen achtzig und hundert Kilometern Luftlinie, schätze ich. Die Mine ist mitten im Busch. Es soll dort ziemlich heiß sein, du wirst also leichteste Sommerkleidung und was Passendes für eine Buschwanderung brauchen. Und feste Schuhe.«
Damit hatte er ihr eine Steilvorlage für die wichtigste Frage gegeben, nämlich ob aus der Aussage über seine finanzielle Lage nur sein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis sprach oder ob sie wirk lich katastrophal war. Es war sinnlos, ihn direkt zu fragen. Mit Sicherheit würde er versuchen, sich hinter irgendeinem albernen Scherz zu verschanzen. Es gab nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Listig und hintenherum. Das war eigentlich nicht ihre Art, aber manchmal ging es eben nicht anders.
»Na, hoffentlich hält das meine Kreditkarte noch aus.« Wie angelegentlich prüfte sie den Lack auf ihren Fingernägeln. »Wie du weißt, habe ich gerade die Rechnung für unsere neue Couch bezahlt, und jetzt ist meine Karte etwas notleidend.«
Die Couch war teuer gewesen, aber Marcus hatte sich in das schöne Stück verliebt. Er wollte es haben, also wurde es gekauft. So lief das meistens. An dem Tag aber hatte er sein Portemonnaie zu Hause vergessen, und natürlich hatte sie ihre Kreditkarte gezückt, hatte jedoch wie er vergessen, ihr Konto mit der Hälfte des Betrages wieder auszugleichen. Angespannt wartete sie auf seine Antwort.
Für den Bruchteil einer Sekunde fiel sein Gesicht in sich zusammen, und sie hielt alarmiert die Luft an. Abwesend fuhr Marcus durch seine kurzen Haare, wie er es immer tat, wenn ihm etwas unangenehm war. Aber schließlich nickte er, als wäre er für sich zu einem grundlegenden Entschluss gekommen. Er zog seine Brieftasche aus der Jackentasche, nahm seine goldene Kreditkarte heraus, wendete sie abwesend hin und her und steckte sie wieder ein.
»Entschuldige, dass ich das vergessen hatte. Ich überweise dir den Betrag sofort.«
»Die Hälfte des Betrages. Nicht alles. Schließlich sitze ich ja auch auf der Couch, und das jeden Tag.«
»O ja, das hätte ich beinahe vergessen. Vielleicht sollten wir die Zeiten notieren, wer wann und wie lange darauf sitzt?« Ein Lächeln blitzte in seinen Augen auf.
Vor Erleichterung wurde ihr ganz schwindelig. Es war doch nicht so schlimm. Mit einem kleinen inneren Hüpfer von Vorfreude fuhr sie aus der Parklücke heraus. Marcus lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ein kurzer Blick auf seinen verkniffenen Mund, die zusammengezogenen Brauen, sagte ihr jedoch, dass er nicht schlief. Der Wagen schlingerte kurz, sie konnte gerade noch gegensteuern und musste ihre volle Aufmerksamkeit auf die schneeverkrustete Straße richten. Mit Marcus’ kompliziertem Seelenleben würde sie sich befassen, wenn sie ohne Unfall durch das dichte Schneetreiben zu Hause angelangt
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