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Nachtsafari (German Edition)

Nachtsafari (German Edition)

Titel: Nachtsafari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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»Damals wurde jeden Tag ein Mensch gehenkt, und die meisten wurden an seinem Gericht und von ihm verurteilt. Als das Apartheidregime kurz vor dem Zusammenbruch stand, muss ihm wohl klar geworden sein, dass seine Tage gezählt waren. Die hätten ihn in Stücke gerissen.«
    Sie biss sich auf die Lippen und studierte noch einmal das Foto. »Ganz sicher bin ich mir nicht, aber wenn ich die beiden vergleiche – den Marcus von damals mit dem Marcus, den wir vorgestern kennengelernt haben –, denke ich, dass er derselbe ist. Es ist mir jedoch schleierhaft, was Henri Bonamour dazu verführen könnte, das Wagnis einzugehen, hierher zurückzukehren«, fuhr sie fort. »Er würde sein Leben aufs Spiel setzen. Jeder, den er in den Tod geschickt hat, hatte Familie und Freunde, und keiner von denen wird je vergessen, was ihnen angetan wurde, und auch nicht den Mann, der das veranlasst hat. Es gibt zu viele, die ihm den Tod wünschen, und viele, die das für Geld mit Vergnügen ausführen würden. Ein Menschenleben ist sehr billig in diesem Land.«
    Sie verstummte, und von den Mienen der beiden Männer konnte sie ablesen, welche Bilder jetzt wohl vor ihrem inneren Auge auftauchten. Täglich bekam man im südafrikanischen Fernsehen und in den Zeitungen Fotos von Menschen zu sehen, die ermordet worden waren. Aus Rache, Habgier, Eifersucht oder einfach nur so. Grässlich zugerichtete Leichen, die sie oft bis in ihre Träume verfolgten. Hin und wieder fragte sie sich, wie Nils und Dirk, die beiden ehemaligen Kriegsreporter, das verkrafteten, was ihnen im Lauf ihrer Arbeit vor die Linse gekommen war. Manchmal stöhnte Nils im Schlaf, schlug sogar um sich, wenn sie ihn dann aber weckte und in die Arme nahm, konnte er sich an nichts Konkretes erinnern, nur dass er in einer Welt von unaussprechlicher Grausamkeit gefangen war. Häufig dauerte es sogar den folgenden Tag, bis er diese Last – vorübergehend – abschütteln konnte.
    Dirk lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte seine Beine aus. »Hat sein Sohn etwas mit alldem zu tun? Ist der auch Richter gewesen?«
    Jill dachte einen Moment nach. »Weiß ich, ehrlich gesagt, nicht«, erwiderte sie schließlich. »Mein Bruder ist gleich nach dem Schulabschluss in die Armee eingezogen worden. Das wird bei Marcus Bonamour nicht anders gewesen sein – sein Vater wird als glühender Verfechter der Apartheidregierung schon dafür gesorgt haben, dass er für sein Land kämpft. Die patriotischen Parolen, die damals die Offiziellen von sich gaben, dröhnen mir noch heute in den Ohren. So muss es in Nazi-Deutschland gewesen sein. Für Volk und Vaterland«, rief sie und stieß mit bitterem Spott eine Faust in die Höhe.
    Nils trommelte nachdenklich mit der Kugelschreiberspitze auf der Schreibtischoberfläche, legte ihn beiseite und tippte auf der Computertastatur herum.
    »Ich sehe mich noch ein bisschen im Netz nach weiteren De tails über die Bonamours um«, sagte er. »Irgendwie fasziniert mich das Ganze. Man sollte doch glauben, dass diese Leute nie wieder wagen würden, sich in Afrika blicken zu lassen, geschweige denn in Südafrika. Wenn Marcus tatsächlich jener Marcus ist, muss er einen sehr, sehr triftigen Grund haben, einen lebenswichtigen, um in sein Heimatland zurückzukehren.«
    »Der Mann hatte Angst«, sagte Jill langsam. »Das konnte man sehen. Glaubt mir, dem war nicht wohl in seiner Haut, und das ist untertrieben. Er war stockbesoffen, und seine Silke schien mir ziemlich verstört zu sein. Sie hat doch immer wieder betont, dass er für gewöhnlich so nicht sei, was immer das heißen soll. Viele betrinken sich, um Angst in Schach zu halten«, fügte sie nachdenklich hinzu und dachte bei den Worten an ihren Bruder.
    Er kämpfte an der angolanischen Grenze gegen Rebellen und war zu einem kurzen Heimataufenthalt auf der Farm eingetroffen. Müde, abgekämpft, blass unter der Sonnenbräune, älter aussehend, als er es tatsächlich war. Ganz gegen seine Art hatte er sie fest in den Arm genommen und leise zu sprechen begonnen.
    »Die Angst ist wie ein Raubtier, das dich aus dem Nichts anfällt«, flüsterte er und presste sie so hart an sich, dass ihr die Luft wegblieb. »Es schlägt seine Klauen und Zähne in dein Fleisch und reißt es dir von den Knochen. Es frisst deine Seele auf.«
    Sein Blick war leer gewesen, seine Miene verzerrt und seine Hände, die ihren Rücken berührten, kalt und klamm. Noch heute drehte sich ihr der Magen bei der Vorstellung um, was er in jenem Moment

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