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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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den Weg«, sagte Tookey, »ich werd’ dichtmachen.«
    Er zapfte mir einen und noch einen für sich, und in diesem Augenblick flog die Tür auf, und dieser Fremde stolperte herein, Schnee auf den Schultern und im Haar, als hätte er sich in Puderzucker gewälzt. Hinter ihm türmte der Wind eine feine Schneedecke im Raum auf.
    »Die Tür zu!« röhrte Tookey ihn an. »Bist du im Stall zu Hause?«
    Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so entsetzt aussah. Er glich einem Pferd, das den Nachmittag damit verbracht hat, Feuerkletten zu fressen. Seine Augen rollten zu Tookey herüber, und er stammelte: »Meine Frau - meine Tochter -« und brach ohnmächtig zusammen.
    »Heiliger Josef«, sagte Tookey. »Mach die Tür zu, Booth, ja?«
    Ich ging und machte sie zu, und sie gegen den Wind zu stemmen, war kein Zuckerschlecken. Tookey kniete neben dem Burschen, hielt seinen Kopf hoch und schlug ihm auf die Wangen. Ich kam zu ihm rüber und sah auf den ersten Blick, daß es schlecht stand. Sein Gesicht war feuerrot, aber hier und da waren graue Flecken zu sehen, und wenn man die Winter in Maine durchlebt hat, seit Woodrow Wilson Präsident war, dann weiß man, daß graue Flecken Erfrierungen sind.
    »Ohnmächtig«, sagte Tookey. »Sei so nett und hol mir den Brandy aus der Theke.«
    Ich holte ihn und kam zurück. Tookey hatte den Mantel des Burschen geöffnet. Er war wieder ein bißchen zu sich gekommen; die Augen waren halb offen, und er murmelte etwas vor sich hin, zu leise, um ihn zu verstehen.
    »Mach die Kappe voll«, sagte Tookey.
    »Nur ‘ne Kappe?« fragte ich ihn.
    »Das Zeug ist Dynamit«, sagte Tookey. »Er braucht ja nicht gleich besoffen zu werden.«
    Ich füllte etwa eine Kappe ab und sah Tookey an. Der nickte. »Direkt die Kehle runter.«
    Ich schüttete es in den Fremden hinein. Es war faszinierend, dabei zuzuschauen. Der Mann zitterte am ganzen Körper und begann zu husten. Sein Gesicht wurde dunkelrot.
    Seine Augenlider, die auf Halbmast gestanden hatten, flogen auf wie Fensterläden. Ich war ein wenig besorgt, aber Tookey setzte ihn auf wie ein großes Baby und schlug ihm auf den Rücken.
    Der Mann fing an zu würgen, und Tookey gab ihm noch einen Klaps.
    »Halt es drin«, sagte er, »der Brandy ist gut.«
    Der Mann hustete noch ein bißchen, aber es wurde schon besser. Ich nahm ihn jetzt zum erstenmal richtig in Augenschein. Stadtmensch, natürlich, und von irgendwo südlich von Boston, vermutete ich. Er trug Glacehandschuhe, teuer, aber dünn. Er hatte wohl noch ein paar von diesen grauen Flecken auf den Händen, und wenn er nicht einen oder zwei Finger verlor, hatte er Glück gehabt. Sein Mantel war ziemlich ausgefallen, klar; wenn ich jemals ein Dreihundert-Dollar-Stück gesehen habe, dann dieses. Er trug enge, kleine Schuhe, die ihm kaum bis an den Knöchel reichten, und ich begann mir Sorgen um seine Zehen zu machen.
    »Besser«, sagte er.
    »Schon gut«, sagte Tookey. »Schaffst du es bis zum Feuer?«
    »Meine Frau und meine Tochter«, sagte er. »Sie sind da draußen … im Sturm.«
    »So wie du hier hereingekommen bist, hatte ich nicht den Eindruck, daß sie zu Hause am Fernseher sitzen«, meinte Tookey. »Du kannst es uns am Feuer ebensogut erzählen wie hier auf dem Boden. Faß mit an, Booth.«
    Er kam auf die Beine, aber stieß ein leises Stöhnen aus, und sein Mund verzog, sich schmerzvoll. Ich dachte wieder an seine Zehen, und ich fragte mich, warum Gott der Meinung war, er müßte diese Idioten aus New York City machen, die im Zentrum eines Blizzard durch Süd-Maine kutschierten. Und ich fragte mich, ob seine Frau und sein kleines Mädchen wärmer angezogen waren als er.
    Wir schleppten ihn hinüber zur Feuerstelle und brachten ihn dazu, sich in den Schaukelstuhl zu setzen, der Mrs. Tookey s Lieblingsstück gewesen war, bevor sie ‘74 starb. Es war Mrs. Tookey gewesen, die aus ›Tookey’s Bar‹ das gemacht hatte, was sie heute war - ein Lokal, das im Down East und im Sunday Telegram und einmal sogar in der Sonntagsbeilage des Boston   Globe lobend erwähnt worden war. Es ähnelte in Wirklichkeit mehr einem englischen Pub als einer Bar, mit dem hölzernen, eher zusammengehauenen als genagelten Boden, der Theke aus Ahorn, einer Decke wie in einer Scheune, und dem wuchtig großen Steinherd. Mrs. Tookey hatte einige Ideen in ihrem Kopf ausgebrütet, als der Artikel im Down East erschienen war, wollte damit anfangen, das Lokal ›Tookey’s Inn‹ oder ›Tookey’s Rast‹ zu nennen,

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