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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wenn er sie zum ersten Mal sah, immer war es ein süßer Schock - sie war ja noch so jung!
    Sein Lächeln strahlte ihr entgegen, er ging schneller.
    »Norma!« sagte er.
    Sie schaute auf und lächelte … doch als er näherkam, erfror das Lächeln in ihrem Gesicht.
    Sein Mund zitterte ein wenig, er war sich plötzlich nicht mehr sicher. Ihr Gesicht verschwamm über der Matrosenbluse.
    Es war schon ziemlich dunkel … konnte er sich irren?
    Bestimmt nicht. Es war Norma.
    »Ich habe dir Blumen mitgebracht«, sagte er erleichtert und überreichte ihr die Rosen samt Verpackung.
    Sie schaute sich das Bündel einen Moment lang an, lächelte - und gab es ihm zurück.
    »Vielen Dank, aber Sie verwechseln mich«, sagte sie, »ich heiße …«
    »Norma«, flüsterte er und zog den kurzstieligen Hammer aus seiner Manteltasche, wo er ihn immer bei sich trug, wenn er abends ausging. »Sie sind für dich, Norma … sie sind immer nur für dich, alles ist für dich.«
    Ihr Gesicht war nur noch weißer Teig; ihr Mund war in stummem Entsetzen weit geöffnet. Sie war nicht Norma, Norma war tot, schon seit zehn Jahren, doch das war nicht mehr wichtig, denn sie wollte schreien, und er schwang den Hammer, um den Schrei zu ersticken, zu töten, und als er ausholte, fielen die Blumen auf .die Straße, das Papier flog weg, rote, gelbe und weiße Rosen fielen zwischen die Mülltonnen, wo die Katzen im Liebesrausch schrien, die Katzen, die sich im Dunkeln liebten, sie schrien in Ekstase.
    Er schwang den Hammer,, und sie schrie nicht, doch sie wollte schreien, denn sie war nicht Norma, keine von ihnen war Norma gewesen, und er schwang den Hammer, den Hammer, der ihr Schicksal war. Sie war nicht Norma, und deshalb holte er aus, immer wieder, die Schläge prasselten auf sie nieder, er schwang den Hammer, wie schon fünfmal zuvor.
    Irgendwann steckte er ihn zurück in seine Innentasche, drehte sich um, weg von dem Schatten, weg von den auf dem Boden zwischen den Mülltonnen verstreuten Teerosen. Er kehrte der Seitenstraße den Rücken zu, die jetzt in völliger Finsternis versunken war. Die Boulespieler waren heimgegangen. Wenn er Blutspritzer auf seinem Anzug hatte, so könnte sie in dieser Dunkelheit keiner sehen, niemand könnte sie sehen in der lieblichen Dunkelheit dieser Frühlingsnacht, und ihr Name war nicht Norma, doch sie kannte seinen Namen, den Namen der Liebe.
    Er war ein schöner Prinz, und sein Name war Liebe. Er streifte durch die dunklen Straßen, weil Norma auf ihn wartete.
    Er würde sie finden, eines Tages, bald.
    Er lächelte wieder. Lockeren Schrittes, fast hüpfend, ging er die dreiundsiebzigste Straße hinunter. Ein älteres Ehepaar saß vor seinem Haus und schaute dem jungen Mann nach, der hocherhobenen Kopfes mit strahlenden, in die Ferne gerichteten Augen an ihnen vorbeiging. Die Frau sagte: »Warum kannst du nur nicht mehr so aussehen?«
    »Häh?«
    »Ach nichts«, sagte sie. Sie schaute dem jungen Mann nach, der in der Finsternis der Nacht verschwand, und dachte, daß nur junge Liebe noch schöner sein konnte als der Frühling. 

Einen auf den Weg
    Es war viertel vor zehn, und Herb Tooklander war im Begriff, ›Tookey’s Bar‹ zu schließen, als der Mann mit dem bleichen, starren Gesicht und dem neumodischen Mantel herein platzte. ›Tookey’s Bar‹ liegt im nördlichen Teil von Falmouth. Es war der zehnte Januar, gerade die Zeit, in der die meisten Leute anfangen, behaglich mit all den Vorsätzen zum neuen Jahr zu leben, die sie bereits gebrochen hatten, und draußen blies ein höllischer Nordost.
    Fünfzehn Zentimeter Schnee waren bis zur Dämmerung heruntergekommen, und seitdem war es heftig weitergegan-gen. Zweimal hatten wir Billy Larribee hoch oben in der Kabine des städtischen Schneepflugs vorbeifahren sehen, und beim zweitenmal hatte Tookey ihm ein Bier herausge-bracht - ein Akt purer Nächstenliebe, hätte meine Mutter gesagt, und sie hat bei Gott zu ihrer Zeit genug von Tookeys Bier heruntergespült. Billy hatte ihm gesagt, daß sie die Hauptstraße noch freihalten konnten, aber die Nebenstraßen waren gesperrt und würden es wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen bleiben. Die Radiostation in Portland sagte weitere dreißig Zentimeter Schnee und einen Sturm voraus, der die Wolken mit siebzig Stundenkilometern vor sich her treiben würde.
    Nur Tookey und ich waren in der Bar, lauschten dem Wind, der um die Dächer heulte, und sahen zu, wie er das Feuer im Herd tanzen ließ. »Nimm dir noch einen auf

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