Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
beschäftigt, und niemand bemerkte das Gespräch.
Jasons hatte so getan, als wolle er einen anderen Beamten nach dem Weg fragen. Im Vorbeigehen warf er etwas auf die Ladefläche von Grahams Pickup. Es sah wie ein Stück Holz aus und landete hinter einigen Topfpflanzen. In Wahrheit enthielt es einen GPS-Peilsender - ursprünglich entworfen für Jäger, die ihre Hunde wiederfinden wollten, falls diese einem Wild hinterherrannten und vor lauter Begeisterung keinem Befehl mehr gehorchten.
Jasons besaß und nutzte vielerlei Gegenstände aus der Überwachungsbranche, von denen einige eines Meisterspions würdig gewesen wären. Doch diese Hundesender, die für etwa fünfhundert Dollar verkauft wurden, waren viel leistungsfähiger als zehnmal so teure Spezialgeräte (die sogar noch mehr kosteten, sobald eine Regierungsbehörde sie erwerben wollte, hatte er gelernt).
Er kam nun an einem Schild vorbei, das die Brücke über den Snake River ankündigte. Der Peilsender rückte immer näher. Dann sah Jasons den weißen Pickup und einen Streifenwagen am Straßenrand stehen, halb verborgen hinter einem Gebüsch etwa zweihundert Meter vor der Brücke.
Jasons fuhr daran vorbei.
Hierhin also waren Deputy McKenzie und die beiden Täter voraussichtlich unterwegs.
Jasons fuhr über die Brücke, unter der sich im Mondschein eine beeindruckende Schlucht erstreckte. Sobald kein anderes Fahrzeug mehr zu sehen war, wendete er quer über den flachen, grasbewachsenen Mittelstreifen hinweg und überquerte die Brücke in Gegenrichtung. Ungefähr auf Höhe der beiden geparkten Fahrzeuge bog er vom Seitenstreifen in ein Waldstück ab und hielt an.
Er stieg aus und streckte sich. Dann öffnete er den Kofferraum, zog statt seines Jacketts einen Anorak an und statt seiner Anzugschuhe ein Paar Stiefel. Außerdem nahm er eine große Segeltuchtasche heraus und hängte sie sich über die Schulter.
Er wartete ab, bis ein großer Sattelschlepper in einer Staubund Sandwolke an ihm vorbeigerast war. Dann überquerte er die Fahrbahn, den Mittelstreifen sowie die andere Fahrbahn und verschwand im Wald.
59
Am Teich, einem weitaus kleineren, aber genauso dunklen und unheimlichen Oval wie dem Lake Mondac, hob Brynn einen Finger an die Lippen und lächelte Amy zu.
Das kleine Mädchen nickte. Amy trug Brynns dunkles Sweatshirt
über dem weißen T-Shirt, und ihre Beine waren unbekleidet und bleich, aber sie schien nicht zu frieren. Sie hatte es aufgegeben, nach ihrer Mommy zu fragen, und ging nun gehorsam neben Brynn her. Dabei hielt sie Chester fest im Arm, ein Stofftier unbestimmter Spezies.
Brynn ließ den Blick über ihren Sammelpunkt schweifen und dachte daran, wie froh sie über das Zusammentreffen mit Charles Gandy gewesen war. Ein Verbündeter, eine Waffe, eine Fluchtmöglichkeit.
Kontrolle.
Doch es war alles bloß ein grausamer Scherz gewesen. Sie hatte nicht mal mehr ihren Speer. Brynn fühlte sich völlig ausgeplündert. Sie zog das Mädchen neben sich in die Hocke und suchte weiter vorsichtig den Teich ab.
Eine Bewegung. Im Gebüsch. Brynn spannte sich an, und Amy musterte sie argwöhnisch.
Waren das Hart und sein Partner?
War es der Wolf, der sich ihnen angeschlossen hatte?
Nein. Brynn atmete erleichtert aus. Es war Michelle.
Die junge Frau harrte geduckt wie eine Jägerin aus. Den Speer in einer Hand und etwas in der anderen - ihr Messer, wie es schien. Sie wartete auf die Killer, trotzig und kampfbereit, als fordere sie die beiden heraus, sich mit ihr anzulegen.
Brynn und das Mädchen gingen los. »Michelle! Ich bin’s«, flüsterte Brynn ihr zu.
Die Frau erstarrte. Doch dann trat Brynn in einen Streifen blauweißen Mondlichts.
»Brynn!«, rief Michelle, steckte das Messer ein und lief zu ihr. Sie hielt inne, als sie Amy verwirrt hinter Brynn stehen sah.
Die beiden Frauen umarmten sich kurz. Michelle kniete sich hin und drückte das Mädchen an sich. »Und wer bist du?«
Amy machte sich von dieser allzu rührseligen Geste frei.
»Das ist Amy. Sie wird uns begleiten.« Brynn schüttelte den Kopf und verzichtete vorläufig darauf, den Grund für die Anwesenheit
des Mädchens zu erklären. Michelle war feinfühlig genug, keine Fragen zu stellen.
»Du bist ja allerliebst! Und wer ist das ?«
»Chester.«
»Er ist genauso niedlich wie du.«
Das kleine Mädchen blieb ernst. Amy schien die Tragödie zu ahnen, auch wenn ihr die Einzelheiten verborgen blieben. Da sie nichts über das Schicksal ihrer Mutter wusste, hatte sie
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