Nachtseelen
Freizeitoutfit â einer Jeans, einem Pullover und einer Jacke -, sah sie nicht gerade aus wie die Herrschaften, denen heute Zugang zu diesem Fest gewährt wurde.
»Natürlich, entschuldigen Sie«, stammelte die Dame, und einer der Männer löste die rote Absperrkordel, die vor dem Eingang hing, allerdings nicht, ohne einen missbilligen Blick auf ihre Erscheinung zu werfen. Alba verdrehte die Augen. Als ob die Queen persönlich heute hier einen Empfang geben würde! Ihre Mutter konnte es auch übertreiben.
In der Eingangshalle huschten die Bediensteten hin und her. Aus einem Saal zu ihrer Linken erklangen klassische Musik und ein Stimmengewirr.
Sie hielt einen der Kellner an und fragte nach ihrem Vater, doch der zuckte nur mit den Schultern. Als Alba die Treppe ansteuerte, rauschte ihre Mutter aus dem Saal â strahlend, mit hochgestecktem und mit Perlen besetztem Haar. Sie trug ein bodenlanges Kleid mit einer Schleppe. Hinter ihr tippelte die Stylistin, die an diesem Abend keinen Schritt von ihrer Seite weichen würde, um aufzupassen, dass jede Strähne saà und sich jede Falte des Abendkleides an der richtigen Stelle befand.
»Alba, bleib sofort stehen! Wir müssen uns unterhalten.«
Alba ignorierte die Frau und setzte ihren Weg fort, wurde aber eingeholt und am Handgelenk gepackt. »Wenn du denkst, du kannst hier so eine Nummer abziehen und â¦Â«
»Ich muss nur meinen Vater sprechen. Dann bin ich auch schon wieder weg.« Sollte das nicht eigentlich ein Empfang zu ihrem Geburtstag sein? Gut, sie hatte ihn selbst vergessen, aber zumindest einen Glückwunsch hätte ihre Mutter sich doch abringen können.
Der Druck auf ihr Gelenk verstärkte sich. »Das glaube ich eher weniger! Nach allem, was du angestellt hast â¦Â«
Alba warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Du willst doch jetzt keine Szene vor all diesen Leuten machen, oder? Denn mir ist es egal, was andere später sagen werden.«
Schon hatten sich ein paar Gäste in der Nähe versammelt und beobachteten die Auseinandersetzung mit neugierigen Gesichtern. Bestimmt schüttelten sie die Köpfe und tuschelten, so etwas hätte es in ihren Familien nicht gegeben. Man merke eben sofort, wenn einer aus der Gosse käme. Albas Mutter glaubte, zu diesen Leuten zu gehören. Wie sehr sie sich doch irrte!
Der Griff löste sich.
»Wo ist mein Vater?«
Die Mutter schnaufte. »In seinem Arbeitszimmer. Er muss noch ein paar Telefonate tätigen, hat aber versprochen, gleich nach unten zu kommen.«
»Ich bedanke mich für die Auskunft.«
Alba setzte ihren Weg fort. Sie hatte bereits die Galerie
der zweiten Etage erreicht, als sie unten in der Eingangshalle Georg bemerkte. Er trat hinter ihre Mutter, in seinen weiÃen Smoking gekleidet, ganz der Märchenprinz. Auf einmal wünschte Alba, sie könnte sich ihm anvertrauen. So, wie sie es immer getan hatte, wenn Sorgen sie plagten.
Fast wäre sie gestolpert, doch sie ermahnte sich zur Ruhe. Du hast ihm bereits alles gesagt, was du sagen konntest. Er dir auch. Du bist nicht mehr sein Mädchen. Also geh weiter.
An der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters klopfte sie an. Durch das dicke Holz erreichte sie ein gedämpftes »Herein!«. Sie folgte der Einladung.
Herr Wagner saà hinter seinem massiven Tisch und wühlte in irgendwelchen Papieren. Jedes Mal, wenn Alba ihm in diesem ovalen Raum begegnete, meinte sie, im WeiÃen Haus vorsprechen zu dürfen. Als Kind wurde sie jeden Abend von ihrer Mutter hierhereskortiert, um ihrem neuen Papa einen Gutenacht-Kuss zu geben. Alles hatte zu groÃ, zu imposant gewirkt; und sie hasste es, zu diesem Liebesbeweis gezwungen zu werden. Vielleicht hätte sie bald angefangen, auch ihren Vater zu hassen, wenn er ihr nicht einmal zugeflüstert hätte: »Wir beide finden es doof, was? Meinst du, wir können dieses Geheimnis für uns behalten?« Danach war das Pflichtprogramm zu einem Konspirationsspiel geworden.
Alba setzte sich in den Sessel, der ihren müden Körper wie eine Wolke empfing. Der Geruch von Leder schmeichelte ihrer Nase.
»Eine Minute, bitte«, sagte Herr Wagner, ohne den Blick von den Papieren zu lösen. Was denn sonst, sie kannte ihn nicht anders.
Aus einer Minute wurde eine Viertelstunde. Zwischen den Telefonaten entschuldigte er sich jedes Mal bei ihr, bis schon das nächste Klingeln seine Aufmerksamkeit
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