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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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Bibliothek aufgetrieben, und die Notizen, die er aus Herzhoffs Haus mitgenommen hatte, zu studieren. Während er seinen Kopf zu zwingen versuchte, sich mit den Informationen über Oya und die übrigen Gottheiten der Yoruba-Religion zu beschäftigen, hatte seine rechte Hand, gewissermaßen ohne sein Zutun, einen Bleistift ergattert. Zuerst kam nur eine Linie auf den Papierrand, dann noch eine. Er stützte sein Kinn auf die Faust und beobachtete, wie sich aus den Linien der Umriss eines Gesichts entwickelte: die feinen Konturen, die vollen Lippen – halboffen, als würden sie gleich etwas sagen, und doch stumm -, eine geschwungene Nase mit einem kaum wahrnehmbaren Höcker, über den er gern mit dem Daumen gestrichen hätte. Als kräftige Wellen zeichnete er die unbändige schwarze Mähne. Mit einer zarten Schraffur betonte er die hohen Wangenknochen und die Augen. Die Augen … nein, die waren ihm misslungen. Denn wie sollte sich darin all das widerspiegeln, was er nicht einmal in Worte fassen konnte? Finn legte den Bleistift beiseite und betrachtete die Zeichnung. Albas Gesicht.

    Warum beherrschte sie seinen Kopf so sehr, dass aus unbedacht gekritzelten Linien auf dem Papierrand ihre Züge entstanden? Klar, sie war eine schöne Frau. Aber Schönheit allein ließ ihn für gewöhnlich kalt. Alba erschien ihm anders, auch wenn ihm klar war, dass er sie genauso wenig haben konnte wie die übrigen ihres Standes, für die er meistens bloß »so’n Asi aus dem Osdorfer Born« war. Trotzdem vermochte er Alba nicht aus seinen Gedanken zu verbannen.
    Er hatte sich wohlgefühlt mit ihr wie schon lange nicht mehr.
    Irgendwie menschlich.
    Finn rieb sich die Augen, die schmerzten, vermutlich vom vielen Lesen. In den letzten Tagen spielten seine Wahrnehmungsorgane verrückt. Mal zerfloss alles vor seinem Blick zu groben Farbtupfern, mal sah er jedes Staubkorn auf mehrere Meter Entfernung gestochen scharf. Die Fähigkeiten seines Vogels stellten sich bei ihm ein und sorgten für ein Durcheinander. Langsam, aber stetig entwickelte sich sein Gehör zurück. Zum Glück waren Rotmilane nicht gänzlich taub, damit blieb ihm noch ein Funke Hoffnung. Aber es ging alles so verdammt schnell!
    Er musterte die Zeichnung. Es war falsch, an Alba zu denken. Am besten, er erstickte jegliches Gefühl im Keim. Über sein Schicksal bestimmte Linnea. Er wurde von ihr durch ein Ritual initiiert und somit an ihre Gemeinde gebunden. Und auch wenn es ihm gelänge, sich von ihr loszureißen, würde er jeder Frau nur Unheil
bringen. Sein Erbe vermochte nicht nur ihn zu zerstören, sondern alles zu vernichten, was ihm lieb war. Kilian, den das Schicksal zu seinem Mentor auserkoren hatte, war in seiner letzten Lebenswoche nicht müde geworden zu beteuern, dass Liebe nur eine ausgefallene Folterart war.
    Er zerknüllte das Blatt und warf es von sich.
    Ein Windstoß drang durch das kaputte Fenster und wirbelte auf dem Tisch alles durcheinander. Finn drückte die Blätter mit einer Hand nieder. Wo war er stehengeblieben? Die Worte sickerten zäh wie Honig in sein Hirn: »Viele Religionen haben ihren Ursprung in dem Glauben des afrikanischen Yoruba-Volkes gefunden, darunter Voodoo, Umbanda, Macumba, Santería und …«
    Sein Blick flog zu der zerknüllten Zeichnung. Denk nicht einmal an sie. Vergiss die Frau! Das ist besser für dich. Und für sie.
    Er riss das Blatt entzwei. Na siehst du, es hat gar nicht wehgetan.
    Oh doch, das hatte es.
    Aus dem Zwielicht der Frühstunde schälte sich der neue Tag, der wolkenverhangen und morgenmuffelig durch das Fenster lugte. Nach dem Hin und Her der letzten Wochen hatte das Wetter endgültig beschlossen, sich auf Herbst umzustellen, und brachte Kälte, Wind und Regen mit sich.
    Zum Mittag hin schwirrte Finn nur so der Kopf von exotischen Namen und der Fülle von Informationen. Aber nun hatte er ein beachtliches Oya-Dossier zusammengestellt
und beschloss, Linnea aufzusuchen. Vielleicht würde es ihm gelingen, sie dadurch abzulenken, dass er so eifrig an ihren Auftrag heranging. Denn er hatte keine Ahnung, wie er Ylva vor dem Zorn der Königin schützen sollte. Und Kilian war tot, konnte keinen Plan mehr entwerfen, der funktionierte.
    Finn packte die Papiere zusammen und verließ die Wohnung. Der Weg zur Bushaltestelle führte ihn an den Garagen vorbei und an einem Spielplatz, auf dem ein paar

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