Nachtseelen
Entführung? Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie ihn absichtlich heraufbeschwören.
Finsternis, eine Treppe, ein Licht. Dann eine Gestalt und ⦠eine Stimme? Die Stimme eines Jungen, als wäre sie durch irgendetwas zum Leben erweckt worden. Wie seltsam. Alles versank in der Dunkelheit, aber die Stimme blieb bei ihr, wurde lebendig und erfüllte sie mit Wärme. Sie bemühte sich, die Worte zu erfassen, doch es war, als wolle sie nach Rauch greifen.
Georg zog Alba an sich und strich ihr über das Haar. Die Stimme verklang in ihrem Kopf. Die Berührung riss sie zurück in die Wirklichkeit, und sie verfluchte Georg, der die Erinnerungen verscheuchte. Sie schubste ihn von sich, aber es war zu spät. Zurück blieb nur eine ferne Angst vor der Finsternis und der Gestalt, die die Treppe herunterkam.
Sie rieb sich über die Oberarme, als wolle sie die feuchte Kälte des Kellers wegrubbeln.
»Du fragst dich bestimmt, woher ich das alles weië,
sagte Georg. »Elmar Wagner ist mit meinem Vater seit langem befreundet. Als du in meine Schule gekommen bist, wurde ich gebeten, auf dich aufzupassen.«
Sie hätte es nie zugegeben, aber bei diesem Geständnis spürte Alba einen Stich im Herzen. Deshalb also hatte er sie gleich in der ersten Unterrichtsstunde angesprochen und unter seine Fittiche genommen. Denn wer mit Georg, dem beliebtesten Jungen der Schule, zusammen war, genoss diplomatische Immunität. Ganz gleich, ob man wie Georg zur Elite gehörte oder, wie einige bis heute hinter ihrem Rücken munkelten, von der StraÃe aufgelesen wurde.
Sie lächelte traurig. Seine Aufgabe nahm er wirklich ernst. Immerhin war er noch bei ihr. Aus Mitleid? Oder Gewohnheit? An Liebe glaubte sie nicht, ohne imstande zu sein, selbst jemanden zu lieben.
Georg schien ihre Zweifel erraten zu haben.
»Schatz, vielleicht habe ich es anfangs nur deshalb gemacht, weil meine Eltern mir dafür das Taschengeld verdoppelt haben. Aber später habe ich mich in dich verliebt. Ich bedauere absolut nichts.« Er zog an dem Haargummi und löste ihren Pferdeschwanz. Nach und nach entfernte er die Haarklemmen, die ihre Strähnen vorn zusammenhielten. Die Locken fielen um ihre Schultern.
Georg lehnte sich zurück und betrachtete sie.
»Du bist wunderschön«, flüsterte er, und ehrliche Begeisterung glättete seine Züge.
Alba wollte ihm glauben. Denn wenn sie ihn verlor,
was würde ihr im Leben bleiben? Ein Stiefvater, der von 15 bis 16 Uhr sonntags und an Werktagen nach Vereinbarung Zeit für sie hatte, und eine Mutter, die ihre Tochter nur durch das Weinglas zu betrachten vermochte. Keine schönen Aussichten.
Georg war immer für sie da. Der Gedanke, ihn irgendwann nicht mehr an ihrer Seite zu wissen, klang absurd ⦠Aber sie würde ihn verlieren. Eines Tages. Vielleicht nicht heute und nicht morgen. Aber es würde ein Leben ohne ihn geben.
Sie öffnete für ihn die Arme. Halt mich fest, solange du es noch kannst. Lass mich dich spüren, solange es mir noch vergönnt ist. Sie fürchtete sich davor, irgendwann mit ihren Alpträumen allein bleiben zu müssen.
Er strich ihr über den Hals, auf und ab, wie Ebbe und Flut. Dann drückte er ihr einen schmerzhaften Kuss auf die Lippen. Sie zuckte zurück.
Etwas sanfter, bitte. Sie wünschte, sie könnte ihn lieben. Mit allen Sinnen und über alle Grenzen hinweg, um sich an die gemeinsame Zeit mit einem Funken Glück und Seligkeit zu erinnern. Aber ihr Herz fühlte sich tot an. Und »Liebe« war für sie nur ein verblichenes Wort auf einem Papierfetzen.
Mit geübten Griffen knöpfte Georg ihre Bluse auf und streifte ihr den Stoff von den Schultern. Seine Küsse bedeckten ihre Haut, seine Finger massierten ihren Rücken und lösten die Verspannungen. Zärtliche, gewohnte Bewegungen. Alba kannte jede einzelne davon, wusste, was kommen würde.
Staub wirbelte hoch, als er sie zu Boden warf. Die Dielen taten ihr an den Schulterblättern weh, doch Georgs Gewicht raubte ihr jede Möglichkeit, sich zu bewegen. Sein Blick labte sich an ihrer blanken Haut. Feuer und Leidenschaft loderten in seinen Augen. All das, was zu empfinden Alba nicht imstande war. Sie floh vor seinem Blick, drehte den Kopf und schaute zum Fenster. Ob der Vogel immer noch da sa� Das tat er nicht.
Der BH hatte seinen Verschluss vorn. Ein Klacken ertönte, und der Stoff gab ihre
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