Nachtseelen
Kids Ticken spielten. Ihm entgegen kam ein Grüppchen Jugendlicher, die Schulter an Schulter marschierten und nicht die leisesten Anzeichen dafür zeigten, als würden sie irgendjemandem Platz machen wollen. So war es Finn, der auf den mit Hundekot und Müll übersäten Rasen ausweichen und das Gegacker der Halbstarken über sich ergehen lassen musste.
»Was ist?«, knurrte er das grün oxidierte Frauengebilde an, das ihm seine unverhüllten Reize darbot. Die Liegende von Edgar Augustin. Finn kniff die Lippen zusammen. An Tagen wie diesem kam es ihm vor, als würde sie ihm ins Gesicht spucken: »Hier, ein bisschen Kultur für solche wie dich, die es sich nicht leisten können, ins Museum zu gehen.«
Zur Krönung durfte er die Rücklichter seines Busses beschimpfen. Letztendlich entschied er sich, zu Linnea zu Fuà zu gehen. Bis St. Pauli brauchte er circa zwei Stunden, Zeit genug, um den Kopf durchzulüften und sich abzureagieren. Abgesehen davon brannte er nicht sonderlich darauf, seine Königin zu sehen.
Kurz vor seinem Ziel bemerkte er vier oder fünf Metamorphe, die für die Sicherheit der Königin zuständig waren. Unter den vielen Menschen fielen sie kaum auf: ein Mann, der seinen Hund ausführte, eine Frau, die an einer Kreuzung so tat, als würde sie rauchen. Die Metamorphe warfen ihm misstrauische Blicke zu. Zu lange hatte er sich nicht im Pesthof gezeigt, und es kursierten sicherlich Gerüchte, er wäre abtrünnig geworden. Gerüchte, denen er nichts entgegensetzen konnte und wollte. Denn er hätte längst die Rolle eines Abtrünnigen auf sich genommen, wäre er nicht so feige gewesen.
Die Wachen lieÃen ihn durch, ohne sich ihm zu nähern. Letzteres hatten bestimmt ihre Seelentiere getan, von denen Finn allerdings nur eines hatte ausmachen können. Die Tiere würden ihm bis zu Linneas Wohnung folgen, bei dem kleinsten Verdacht bereit, anzugreifen.
Die Eingangstür stand offen, die Treppe war frisch gewischt, und noch hing der Geruch des Reinigungsmittels in der Luft. Linnea nahm ihren Job als Putzfrau ernst, auch wenn er ihr bloà zur Tarnung diente, um jederzeit zu dem Raum mit den Versorgungsanschlüssen des Gebäudes zu gelangen. Dort im Keller nahm der Gang, den Linnea zum Pesthof angelegt hatte, seinen Anfang.
Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Ãber dem Klingelknopf prangte kein Schild, sondern ein Pflaster, auf das sie mit einem Kugelschreiber ihren Namen geschmiert hatte: Andersen.
Finn klingelte. Es dauerte etwas, bis seine Königin ihm öffnete. Sie trug einen lässig gebundenen Kimono aus Seide, und er fragte sich, ob er nicht lieber später wiederkommen sollte. Doch sie erlaubte keine Widerrede und bedeutete ihm mit einem Wink einzutreten.
Bereits im Flur, der als Schleuse zu den weiteren Räumlichkeiten diente, war die Luft schwül und bleiern. Während Finn die Schuhe auszog, verschwand Linnea im Wohnzimmer. Er folgte ihr auf Socken und tauchte in eine Nachahmung eines Tropenwaldes ein.
Der Rindenmulch, mit dem die Hälfte des Bodens bedeckt war, fühlte sich seltsam an unter seinen FuÃsohlen. Linnea bestreute die andere Hälfte mit einer dicken Sandschicht â heute war wohl überall Putztag. Aufgetürmte Steine an der Wand ahmten eine Höhlenlandschaft nach, ein Springbrunnen mit einem Miniatur-See bildete eine Tränke. In den Zimmerecken spendeten Sprühdüsen Feuchtigkeit, und die leistungsstarken Wärmestrahler an der Decke sorgten für die unerträglich tropischen Temperaturen.
Finn entdeckte Linneas Liebling auf einem Ast, der von einer Wand in den Raum ragte. Nach dem Besuch in Hermanns Haus war das Tier zu seinem Frauchen zurückgekrochen. Die Schlange hob den Kopf, züngelte und musterte ihn aus kalten Augen.
Er schüttelte sich innerlich vor Unbehagen. Die letzten Tage hatte die Schlange ihn beobachtet, als wäre er ein Kaninchen, das sie verspeisen wollte. Unsichtbar hatte sie ihn auf Schritt und Tritt begleitet. Was wusste
sie, fragte er sich, und wie viel davon bekam Linnea mit? Wenn die Königin von seiner Zuneigung zu Alba erfahren sollte, schwebte das Mädchen in Gefahr. Deshalb war er vom Dachboden geflohen, damit der kriechende Spion nicht bemerkte, wie gern er Albas Gesellschaft hatte.
Linnea beachtete ihn nicht. Sie verteilte den Sand bis in die letzte Ecke, schnürte den Sack zu und trug ihn in eine
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