Nachtseelen
den Gefängnistrakt, wie sie diesen Durchgang nannte. In der Mitte blieb Linnea stehen. Sie haderte kurz mit sich selbst, gab der Versuchung nach und legte die freie Hand auf eine der Wände. Durch ihre Haut flossen Vibrationen aus der Zelle. Erst gestern hatte ein Jägerteam ein neues Opfer hierhergeschleppt. Dieses Exemplar besaà noch viel Kraft, es zerrte und rüttelte an den Fesseln. Linnea konnte jede seiner Rührungen spüren mit einer
Intensität, die wie leichte Stromschläge unter ihren Fingern prickelten. Da â es hatte seinen Körper gewölbt, warf sich hin und her, in der Hoffnung, seine Fesseln abzustreifen. Sie hatte befohlen, den Gefangenen nicht so stramm an das Gestell zu binden. Denn es gefiel ihr zu erleben, wie ihre Opfer mit den Fesseln rangen, in dem Glauben, sie würden sich bald befreien. Mit jedem weiteren Erfolg ihres Jägerteams kam sie ihrem Ziel, diese Welt ein Stück sicherer zu machen, näher. Tag für Tag erfüllte es sie mit Zufriedenheit und der Gewissheit, viele Leben gerettet zu haben.
Als sie sich an seinen Leiden genug ergötzt hatte, setzte sie ihren Weg fort. Hinter der nächsten Ecke befanden sich ihre Räumlichkeiten. Sie trat ein und schloss die Metalltür hinter sich zu. An der hinteren Wand stand ein Käfig, in dem eine Gestalt kauerte. Linnea näherte sich dem Zwinger, hockte sich davor und stellte das Tablett ab.
Ein Knurren ertönte.
»Schschsch â¦Â«, zischte sie beruhigend und legte ihre Hände im Schoà zusammen. »Keine Angst. Ich werde dir nichts tun. Ylva, so heiÃt du doch, oder?« Sie achtete darauf, sich so wenig wie möglich zu bewegen.
Auch die Schwachsinnige rührte sich nicht. Wenn nicht das orangefarbene Leuchten gewesen wäre, das von ihr ausging, hätte man denken können, sie wäre tot. Ihre Ratte war Micaela entwischt und hatte sich bis jetzt nicht gezeigt, obwohl die Seelentiere eigentlich immer in der Nähe ihrer Besitzer blieben. Aber bei diesen
beiden, dem Tier und dem Mädchen, war nichts so, wie es hätte sein sollen.
Linnea fragte sich, was sie mit der Elenden eigentlich anfangen sollte. Sie hätte sie gleich töten müssen â ein Metamorph, der sich mit solcher Leichtigkeit ihrem Einfluss entziehen konnte, war gefährlich. Und doch tat sie es nicht. Anfangs rechtfertigte sie ihre Schwäche damit, dass die junge Frau ihr vielleicht Finns Versteck verraten würde. Aber das war nicht der Grund, und auch die anfängliche Abscheu, die sie beim Anblick des Mädchens empfunden hatte, verschwand. Jetzt spürte sie Mitleid.
»Ylva â¦Â« Linnea lieà den Namen auf der Zunge zergehen. »So nennt Finn dich, oder?«
Die Schwachsinnige schnaufte. Die Geräusche, die sie von sich gab, schienen eine Bedeutung zu haben, die sich einem nach und nach offenbarte, je mehr Zeit man in Gesellschaft der Elenden verbrachte.
»Du hast einen Narren an ihm gefressen, nicht wahr?« Linnea neigte den Kopf und lächelte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Schwermut beschlich ihre Seele, jedes Mal, wenn sie an ihn dachte. »Ich auch. Wie seltsam. Die Königin und eine so erbärmliche Kreatur wie du hüten die gleiche Sehnsucht. Ich brauche ihn, verstehst du? Ich muss ihn besitzen, sonst werde ich ganz verrückt. Aber du wirst mir nicht sagen, wo er sich versteckt, richtig?«
Das Schnauben, das als Antwort kam, strafte sie mit Verachtung.
»Natürlich nicht. Verstehe.«
Am Anfang hatte Micaela die Gefangene nach ihrem Befehl gequält, um an die Informationen zu gelangen. Ohne Erfolg. Linnea hielt das grausame Spiel nicht lange aus. Sie unterband die Folter, auch wenn dieses Zeichen der Schwäche schnell bekanntwurde und für Getuschel sorgte.
Während die Qualen der Gefangenen sie mit Genugtuung erfüllten, sezierten die Leiden des Mädchens sie wie Messer. Linnea spürte Ylvas Hunger und ihren Durst, die Verzweiflung und die Kälte. Aber noch schlimmer war es, die Welt ringsherum zu spüren, die dem armen Wesen zu groÃ, zu unverständlich erschien und es bis zum Wahnsinn ängstigte.
Linnea erschauderte. Sie und die Schwachsinnige â waren sie so verschieden? Wohl kaum. Beide auf sich allein gestellt, von allen verabscheut und gemieden. Hatte sie die Arme vielleicht deshalb unter ihre Fittiche genommen? Weil sie in ihr eine verwandte Seele zu finden glaubte?
Linnea blinzelte, um die
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