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Nachtsplitter

Nachtsplitter

Titel: Nachtsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja von Vogel
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verabschiedeten uns ohne den üblichen Kuss voneinander.
     Als er gegangen war, knallte ich die Tür hinter ihm ins Schloss.

Dienstag
    1
    Die Wiese ist nicht groß. Der Mond taucht sie in silbriges Licht. Eine leichte Brise liebkost die langen Gräser. Sie schwanken
     hin und her und rascheln leise. Sonst ist es ganz still.
    Ich stehe im Wald, in der Dunkelheit. Als ich gerade hinaus ins Mondlicht treten will, sehe ich etwas. Eine Bewegung zwischen
     den Gräsern. Dort ist jemand. Ich höre ein Lachen. Ganz leise nur. Ich sehe einen Arm. Er reckt sich in die Höhe wie eine
     helle Schlange. Dann erhebt sich etwas aus der Gräserflut. Ein Kopf, silbern glänzendes Haar, schneeweiße Brüste. Eine Nixe
     im Gräsermeer.
    Ich kann den Blick nicht abwenden. Mir wird kalt. Ich gefriere zu Eis. Ich will schreien, wegrennen, aber es geht nicht. Bei
     der kleinsten Bewegung werde ich in tausend winzige Eiskristalle zersplittern, das weiß ich genau.
    Da legt sich eine warme Hand auf meine Schulter. Langsam, ganz langsam drehe ich mich um.

2
    Morgens prangte das Phantombild auf der Titelseite der Zeitung. Ich versuchte, es nicht zu auffällig anzustarren, als meine
     Mutter die Zeitung durchblätterte. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf, dann nahm sie den Lokalteil und vertiefte sich
     in einen Bericht über die geplante Umgehungsstraße.
    Ich rührte stumm in meinem Müsli. Mir war flau im Magen und ich war müde. Ich hatte nicht gut geschlafen. Wieder einmal hatten
     mich seltsame Träume gequält. Ich hatte noch nie so lebhaft geträumt wie in der letzten Zeit. Manchmal wirkten die Träume
     so real, dass ich nach dem Aufwachen völlig durcheinander war und mich erst einmal orientieren musste. War ich wirklich auf
     dieser Wiese gewesen? Und wenn ja, was hatte ich dort gesehen?
    Meine Mutter blickte auf. »Keinen Hunger heute?«
    Ich schob mir schnell einen Löffel Müsli in den Mund. Ich hatte keine Lust auf Mamas üblichen Vortrag darüber, dass ein heranwachsender
     Mensch morgens ein anständiges Frühstück braucht.
    Sie stutzte. »Du hast die Haare anders. Steht dir gut.«
    Ich beugte mich tief über die Müslischale, damit Mama nicht merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Statt die Haare wie
     sonst immer offen zu tragen, hatte ich mir vorhin im Bad einen Pferdeschwanzgemacht. Meinen Lieblingsrock hatte ich ganz hinten in den Schrank gestopft und stattdessen eine lange Jeans angezogen, in
     der ich wahrscheinlich fürchterlich schwitzen würde. Dazu trug ich ein schlichtes schwarzes T-Shirt . Ich hatte das Bedürfnis, in der Masse unterzugehen. Auszusehen wie alle anderen. Mich unsichtbar zu machen.
    Mama legte den Lokalteil zur Seite. Das Phantombild lag zwischen uns auf dem Tisch. Es schien zu leuchten und zu pulsieren.
    Schau mich an!, rief es meiner Mutter zu. Erkennst du mich nicht? Erkennst du deine eigene Tochter nicht?
    Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten.
    Mama zog die Zeitung zu sich heran und betrachtete das Bild genauer. Ich beobachtete sie verstohlen, während ich so tat, als
     wäre ich voll und ganz mit meinem Müsli beschäftigt. Doch je länger ich kaute, desto größer wurde der Klumpen in meinem Mund.
     Die Haferflocken schienen immer mehr aufzuquellen. Ich schaffte es einfach nicht, sie hinunterzuschlucken.
    »Jetzt werden sie die Täter bald haben«, bemerkte meine Mutter.
    »Hm?« Ich sah auf und zog die Augenbrauen in die Höhe, als hätte ich keine Ahnung, wovon sie sprach. Ich kaute immer noch
     wie eine Verrückte.
    »Diese Spinner, die die Flasche von der Brücke geworfen haben.« Meine Mutter zeigte auf das Phantombild.»Irgendwer wird sie erkennen und dann sind sie dran.«
    Sie schaute mich an – musterte mich aufmerksam? – und ich wünschte, ich hätte mein Gesicht hinter den langen Haaren verstecken können. Der Pferdeschwanz war ungewohnt, ich
     fühlte mich irgendwie nackt. Ich nahm meinen Becher und spülte die Haferflocken mit einem großen Schluck Tee hinunter. Es
     brannte in meiner Kehle. Ich ließ den Löffel in meine noch halb volle Müslischale fallen und stand hastig auf.
    »Ich muss los.«
    »Jetzt schon?« Meine Mutter runzelte die Stirn. »Und was ist mit deinem Frühstück?«
    »Ich bin fertig.«
    »Dann nimm wenigstens einen Apfel mit.« Mamas Stimme klang energisch. Wenigstens war sie jetzt von der Zeitung abgelenkt.
    Ich fischte einen Apfel aus der Obstschale, winkte meiner Mutter zu und verließ fluchtartig das Haus.

3
    Ich war viel

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