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Nachtsplitter

Nachtsplitter

Titel: Nachtsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja von Vogel
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immer.

Donnerstag
    »Ich kenne dich.« Das Mädchen legte die Stirn in Falten und betrachtete mich nachdenklich.
    »Ich dich auch.« Ich schloss leise die Tür hinter mir. »Du bist Lena.«
    »Bist du von der Zeitung?«, fragte Lena. »Dann darf ich nämlich nicht mit dir sprechen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Jenny. Meine Mutter ist hier Stationsschwester.«
    »Ach so.« Lena sah fast etwas enttäuscht aus. »Jetzt weiß ich auch wieder, woher ich dich kenne. Du warst schon mal hier.
     Du hast dort draußen auf dem Flur gestanden.«
    »Stimmt. Ich hab auf meine Mutter gewartet.«
    »Was ist da drin?« Lena zeigte auf die große Plastiktüte, die ich in der Hand hielt.
    »Das ist für dich.« Ich setzte mich auf den Stuhl neben Lenas Bett und zog einen Schuhkarton aus der Tüte. »Ich hab gehört,
     dass du dich manchmal langweilst.«
    Lena zog eine Grimasse. »Nicht manchmal, immer! Es ist stinklangweilig hier. Ich darf nicht aufstehen, nicht lesen und nicht
     fernsehen. Und mit den anderen Kindern spielen darf ich auch nicht. Total öde!Manchmal liest mir eine der Schwestern was vor, aber meistens haben sie keine Zeit.«
    »Und dein Vater?«, fragte ich.
    »Der kommt immer erst abends, weil er jetzt wieder arbeiten muss.« Lena zögerte, dann sagte sie: »Meine Mutter ist tot. Sie
     ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Es klang, als würde sie die Worte nur nachplappern. Ob sich ihr Vater so ausgedrückt
     hatte? Hatte er sich hinter Worthülsen versteckt, um die unerträgliche Wahrheit überhaupt über die Lippen zu bekommen? Lena
     beobachtete mich, wartete die Wirkung ihrer Worte ab.
    »Ich weiß. Ich hab's in der Zeitung gelesen. Im Fernsehen haben sie auch über den Unfall berichtet.«
    »Ich hab auch in dem Auto gesessen«, sagte Lena. »Aber ich bin nicht gestorben.«
    »Ja, du hast Glück gehabt.«
    »Mama nicht.« Ein Schatten huschte über Lenas Gesicht. »Sie ist jetzt im Himmel.«
    Mir war etwas mulmig zumute. Am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen. Ich hatte nicht viel mit Kindern am Hut. Schon gar
     nicht mit Kindern, die gerade einen Elternteil verloren hatten. Darum sagte ich das Erste, was mir in den Sinn kam. »Mein
     Vater ist auch tot.«
    »Ehrlich?« Lena sah mich interessiert an. Der Schatten war von ihrem Gesicht verschwunden. »Hatte er auch einen Autounfall?«
    »Nein. Er hatte eine Gehirnblutung.«
    »Was ist das?«
    »Eine Blutung im Gehirn«, erklärte ich. »Sie entsteht, wenn eine kleine Ader im Kopf platzt. Er ist einfach umgekippt. Und
     ein paar Stunden später war er tot.« Es fiel mir erstaunlich leicht, Lena davon zu erzählen. Vielleicht, weil sie nicht diesen
     betroffenen Blick draufhatte wie die meisten Leute, wenn sie vom Tod meines Vater erfuhren.
    »Darf ich nachschauen, was drin ist?« Lena zeigte auf den Schuhkarton.
    »Klar.« Ich legte den Karton aufs Bett und sah zu, wie Lena eifrig den Deckel abnahm. Ihre Augen leuchteten auf. »Ein Radio!«
    »Ein Kassettenrekorder«, korrigierte ich. »Er ist schon ziemlich alt, früher hat er mir gehört. Aber er funktioniert noch
     prima. Das hier gehört auch dazu.« Ich reichte ihr einen Stapel Hörspielkassetten in zerkratzten Hüllen. Von
Die drei???
über
TKKG
bis
Fünf Freunde
war alles dabei.
    »Super!« Lena strahlte mich an. »Können wir gleich eine hören?«
    »Klar.« Ich steckte den Kassettenrekorder ein und suchte nach der ersten Folge der drei Fragezeichen.
    »Du bleibst doch noch ein bisschen, oder?«, fragte Lena.
    Ich nickte. »Natürlich.« Dann drückte ich auf die Starttaste und lehnte mich zurück.

Sonntag
    1
    »Was willst du hier eigentlich?« Jakob stand auf der Autobahnbrücke und blinzelte in die Sonne. Er schien sich nicht besonders
     wohl in seiner Haut zu fühlen.
    »Nur ein paar Aufnahmen machen.«
    Ich zog mein nagelneues Handy aus der Umhängetasche und klappte es auf. Gestern hatte ich es nicht mehr ausgehalten. Ich hatte
     mein Sparkonto geplündert und mir in einem Handyladen ein Smartphone gekauft. Mit Touchscreen, Internetzugang und lauter anderem
     Schnickschnack. Aber das Einzige, was mich wirklich interessierte, war die integrierte Kamera. Sie machte gestochen scharfe
     Fotos und noch bessere Filmaufnahmen. Ein Traum!
    Ich stellte die Kamera ein und machte einen Schwenk über die Brücke. Dann zoomte ich Jakob heran. Ein Windstoß blies ihm die
     dunklen Haare in die Stirn. Ich berührte sein Gesicht auf dem Touchpad.
    Drei Tage lang hatte ich es geschafft, Jakob

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